In Würzburg mit Handicap zu studieren, bedeutete vor zehn Jahren noch eine Herausforderung. Viele Räume der Hochschule waren nicht barrierefrei zugänglich. Es gab kaum Behinderten-WCs. Auch hatten Dozenten wenig Wissen darüber, was es heißt, mit einer Depression zu studieren.
Seither hat sich viel getan. Was in erster Linie der im Januar 2008 gegründeten Kontakt- und Informationsstelle für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung (KIS) zu verdanken ist.
Wahl des Studienortes wegen der Anlaufstelle
„Wegen KIS habe ich mich für Würzburg als Studienort entschieden“, sagt Maximilian Gräf, der im 11. Semester Latein und Griechisch auf Gymnasiallehramt studiert. Der 24-Jährige aus dem unterfränkischen Michelau, der zu 80 Prozent schwerbehindert ist, studiert unter erschwerten Bedingungen.
Gräf leidet an Asperger-Autismus und am Tourette-Syndrom, außerdem wurde bei ihm eine ADHS diagnostiziert. Aufgrund feinmotorischer Störungen ist es ihm nicht möglich, mit der Hand zu schreiben: „Ich kann nur mit zwei Fingen auf dem Notebook tippen.“ Darüber hinaus sieht Gräf schlecht. Auf dem linken Auge hat er Minus zwölf Dioptrien.
Spezielle Herausforderungen je nach Behinderung
Noch bevor er ins Studium startete, informierte sich Maximilian Gräf bei KIS-Leiterin Sandra Mölter, wie er sein Studium trotz Handicap gut bewältigen könnte. Möller setzte mehrere Erleichterungen für den hochbegabten Einserabiturienten durch. „Prüfungen schreibe ich zum Beispiel immer in einem separaten Raum“, berichtet der junge Mann. Dadurch kann er seine ADHS-bedingten Einschränkungen kompensieren: „Denn Störreize sind ausgeblendet.“
Gräf bekommt auch mehr Prüfungszeit, da er nur langsam schreiben kann. Außerdem ist es ihm erlaubt, das Notebook zu benutzen: „Die Aufsicht kontrolliert zuvor, dass das WLAN ausgeschaltet ist, damit ich nichts im Internet nachschauen kann.“ Zwei Studienassistenten sorgen schließlich dafür, dass Gräf mit Mitschriften versorgt wird. 66 Assistenzstunden stehen ihm monatlich zu.
Häufig fällt die Behinderung gar nicht auf
Mit seinem Mix an Einschränkungen ist Maximilian Gräf auch für Sandra Mölter etwas Besonderes: „Die meisten Studierenden, die ich berate, haben eine einzige Einschränkung.“ Auf der anderen Seite sei Gräf jedoch sehr typisch: „Ich berate vor allem Studierende, deren Behinderung nicht auffällt.“
Fast 400 Männer und Frauen unterstützte die aus Aachen stammende Soziologin und Psychologin im vergangenen Jahr. Nahezu jeder zweite Studierende kam wegen psychischer Probleme zu ihr. Depressionen und Angststörungen rangieren ganz vorn.
Bauliche Barrieren müssen beseitigt werden
Erzählt die KIS-Leiterin, dass sie sich hauptsächlich mit seelischen Handicaps beschäftigt, erntet sie oft erstaunte Blicke. „Behinderung“ wird nach wie vor mit „Rollstuhl“ gleichgesetzt. „Doch Studierende im Rollstuhl kann man an der Uni Würzburg an wenigen Händen abzählen“, sagt Mölter. Höchstens 50 sind es, schätzt die Fachfrau für Menschen mit Handicap. Auch gibt es nur wenige sinnesbehinderte Studierende. Der KIS-eigene Fachdienst zur Aufbereitung von Studienmaterialien kümmert sich aktuell lediglich um eine einzige blinde Studentin.
Dennoch ist es für Mölter wichtig, bauliche Barrieren zu beseitigen. Hier ist in den letzten Jahren viel geschehen. Am Wittelsbacher Platz gibt es nun ein barrierefreies Hörsaalgebäude nebst Blindenleitsystem. Die Unibibliothek hat neue Eingangstüren, die sich automatisch öffnen. Mehrere Gebäude, darunter das Biozentrum, das Rechenzentrum und die Informatik, stehen vor einem barrierefreien Umbau.
Hilfe und Tipps auch von anderen Studierenden
In Einzelfällen ist das Studieren mit Körperbehinderung dennoch schwierig. So hat es Mölter gerade mit einem Mann mit Muskeldystrophie zu tun, der Psychologie zu studieren begann. Mit seinem breiten Elektrorollstuhl kommt er in einige Räume am Röntgenring nicht hinein. „Es gelang uns aber, Seminare zu verlegen“, so Mölter. Um den Studenten weiterzuhelfen, vermittelte sie ihn an den Psychologen Julian Wendel, der in Würzburg ebenfalls mit Muskeldystrophie studiert hat. Der riet, sich nach einem etwas schmäleren Elektrorollstuhl umzuschauen, so dass mehr Räume zugänglich werden.
Während querschnittgelähmte Studierende darauf angewiesen sind, dass sie ohne Hürden in Räume gelangen, brauchen Studenten mit psychischer Erkrankung vor allem eines: Verständnis. In bayernweit ausgeschriebenen Seminaren klärt Sandra Mölter Dozenten darüber auf, was es bedeutet, sich mit Depressionen zum Lehrer, Germanisten oder Historiker zu mausen. „Diese Studierenden haben zum Beispiel oft extreme Prüfungsangst“, sagt sie.
Sonderpädagoge Reinhard Lelgemann hatte Stelle etabliert
Sie selbst investiert gerade in die Beratung von psychisch erkrankten Studenten viel Zeit – und oft auch viel Nerven. Derzeit hat sie es zum Beispiel mit einem seelisch erkrankten Langzeitstudenten zu tun, der seit Jahren über seiner Magisterarbeit brütet. Immer wieder verschaffte Mölter ihm Fristverlängerungen. Inzwischen zeichnet sich jedoch ab, dass der Student es wahrscheinlich niemals schaffen wird, seine Arbeit abzuschließen. Weitere Bitten um Fristverlängerung schienen Mölter nicht mehr vertretbar. Was sie dem Studenten sagte. Der wurde ausfällig, da er die Entscheidung nicht akzeptieren kann.
Dass es den KIS-Service an der Uni gibt, ist dem inzwischen emeritierten Sonderpädagogen Reinhard Lelgemann zu verdanken. Der wurde 2005 vom Senat zum Behindertenbeauftragten der Hochschule ernannt. Mehr als zwei Jahre beriet er Rollstuhlfahrer, Hörgeschädigte und Studierende mit Sehbehinderung ehrenamtlich. Weil die Nachfrage nach Beratung stieg, setzte er eine feste Stelle durch.
Bayernweit guter Ruf: Würzburg koordiniert die Inklusion
Mechthild Klostermann, erste KIS-Leiterin, kreierte den Namen „Kontakt- und Informationsstelle für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung“ und etablierte ein erstes Beratungsangebot.
Inzwischen hat KIS bayernweit einen so guten Ruf, dass der Freistaat entschied, hier den Forschungs- und Praxisverbund „Inklusion an Hochschulen und barrierefreies Bayern“ anzusiedeln. An verschiedenen bayerischen Hochschulen werden, koordiniert von Sandra Mölter, Facetten des Themas „Inklusion an Hochschulen“ untersucht. Auch Würzburger Forscher sind beteiligt.
Sie wollen herausfinden, welche Haltung Dozenten und Behindertenbeauftragte zum Thema „Handicap“ haben. Außerdem interessiert sie, mit welchen Motivationen und Qualifikationen Schwerbehindertenvertreter ihr Amt antreten. Erste Ergebnisse liegen inzwischen vor. Demnach fehlen Behindertenbeauftragten teilweise Kompetenzen, was psychische Handicaps anbelangt.