Das Wetter war schon in den beiden Jahren zuvor schlecht gewesen. Und jetzt, 1851/1852, wurde der Winter hart, lang und bitterkalt. Eine magere Ernte und Hunger waren die Folge, im Spessart, im Kahlgrund und in der Rhön litten die Menschen Not. Moritz Graf zu Bentheim-Tecklenburg-Rheda, aus dem heutigen Nordrhein-Westfalen durch seine Vermählung nach Unterfranken gekommen, wollte dem Elend nicht untätig zusehen.
Der Graf, zwar adelig, aber nicht vermögend und getrieben von sozialem Interesse, erklärte sich zum Anwalt der Schwachen. Er berief ein Haupt-Hilfskomitee zusammen und veröffentlichte im Februar 1852 einen Aufruf „An alle Menschenfreunde. 73 489 Gulden an Geldspenden kamen bald zusammen, weitere 19 269 Gulden für Naturalien.“ Die Rettung für die Bevölkerung in der schwer getroffenen Region.
Sich erst um die Hungrigen gekümmert - dann um blinde Kinder
Fast zur selben Zeit machte man den Grafen „auf eine Klasse schwer heimgesuchter Menschen“ aufmerksam, die unbeachtet und ungehört waren. Menschen mit Blindheit, zu damaliger Zeit im Regierungsbezirk Unterfranken und Aschaffenburg 300 an der Zahl. Und der engagierte Graf handelte wieder, mit einem erneuten Aufruf.
Der vielseitig interessierte Adelige, der ab 1845 auf Schloss Wasserlos in Alzenau (Lkr. Aschaffenburg) gelebt und sich 1865 endgültig in Würzburg niedergelassen hatte, schrieb Gedichte. Im Bändchen „Sagen und Bilder“ bot er sie jetzt zum Verkauf an. Der Erlös sollte der Gründung eines unterfränkisch-aschaffenburgerischen Blindeninstituts dienen. Nach drei Verkaufsrunden konnte der Graf schon einen Anfangsbeitrag von 1400 Gulden nennen, den die erste Auflage rasch erzielt hatte.
Am 19. April 1853 konstituierte sich unter der Vorstandschaft des Grafen und einiger Mitstreiter ein Verein. Ohne Unterschiede des Standes, der Religion und des Geschlechts setzte er sich zur Aufgabe, das Los der blinden Menschen nach Kräften zu mindern, den Blindenunterricht zu fördern und eine Beschäftigungsanstalt zu gründen. Das Datum gilt heute, 168 Jahre später, als Geburtstag der Blindeninstitutsstiftung.
Wie genau es dazu kam, dass ein zugezogener Graf in Würzburg die erste Schule für sechs blinde Kinder aus Unterfranken gründete und wie daraus ein modernes Sozialunternehmen wurde – es ist jetzt nachzulesen in einer gewichtigen Chronik. Auf über 600 Seiten geben die beiden Herausgeber – der langjährige ehemalige Stiftungsdirektor Dr. Hans Neugebauer und der Schulkonrektor a.D. Dr. Wolfgang Drave – mit Abzügen von Originaldokumenten, zahlreichen Zeitzeugenaussagen und ihrem über Jahrzehnte hinweg gesammelten Wissen tiefe Einblicke in das Leben blinder und sehbehinderter Menschen.
Neugebauer und Drave schildern mit vielen Kollegen und Mitstreitern, wie sich das therapeutische Arbeiten mit blinden und mehrfachbehinderten Kindern entwickelte, wie Diagnostik und Förderung verbessert werden konnten, wie Integration und Inklusion gelang. Sie schildern auch, was mit blinden und sehbehinderten Menschen im Blindeninstitut während der Zeit des Nationalsozialismus geschah. Und welche tiefgreifende Entscheidung die Blindeninstitutsstiftung zu Beginn der 1970er Jahre vor der Auflösung rettete und schließlich zur Gründung neuer Blindeninstitute in ganz Bayern und Thüringen führte.
Der voluminöse Band – mehr Buch zum Schmökern, Blättern, Schauen als spröder chronologischer Rückblick – ist Ergebnis von mehr als 40 Jahren Engagement. Im Jahr 1978, zum 125-jährigen Jubiläum, hatten Hans Neugebauer und Wolfgang Drave für eine Festschrift historisches Material über die Blindeninstitutsstiftung gesucht. Und wenig gefunden. Fast keine Dokumente aus den ersten 100 Jahren nach der Gründung waren erhalten geblieben, alle Unterlagen waren in der Würzburger Bombennacht vom 16. März 1945 verbrannt.
In ungezählten Stunden in den Archiven gesucht
Doch Neugebauer und Drave, der junge neue Stiftungsdirektor und der Konrektor der Graf-zu-Bentheim-Schule, wollten die Geschichte nicht auf sich beruhen lassen. In mühevoller Recherchearbeit durchsuchten die beiden Pädagogen die Archive in München und Würzburg, führten Interviews mit Zeitzeugen, sammelten Hunderte von Bildern, Videos und Dokumenten. „Bis zum Ersten Weltkrieg haben wir alles lückenlos gefunden“, sagt Neugebauer. Unter anderem die Geschäftsberichte der ersten 25 Jahre – „da stand alles drin bis ins kleinste Detail“. Und ein reger Briefwechsel war in den Staatsarchiven erhalten mit anderen Blindeninstituten in Zürich, Wien und anderswo – „die Einrichtungen haben sich intensiv ausgetauscht“.
Im Ruhestand begannen Neugebauer und Drave am Blindeninstitut die Unterlagen in einem Archivraum zu ordnen und zu ergänzen. Dabei entstand die Idee, das gesammelte Wissen in einem umfassenden „Geschichtsbuch“ niederzuschreiben und für jedermann zugänglich zu machen. Unterstützt von 30 Kollegen und ehemaligen Weggefährten als Autoren – mit blinden und sehbehinderten Menschen, die selbst zu Wort kommen.
Einer von ihnen, 1917 geboren, berichtet im Interview von Zwangssterilisationen blinder Schüler Ende der 1930er Jahre, die von den Nationalsozialisten angeordnet und von den damaligen Verantwortlichen des Blindeninstituts unterstützt worden waren. „Wir können heute nicht mehr gutmachen, dass diese jungen Menschen in ihrer Würde zutiefst verletzt worden sind“, sagt der heutige Stiftungsvorstand Johannes Spielmann. Als „Zeichen unserer geschichtlichen Verantwortung“ fertige der Kleinrinderfelder Bildhauer Kurt Grimm deshalb gerade ein Erinnerungsmal. Unter dem Titel „Zusammenhalt“ zitiert es den ersten Artikel des Grundgesetzes in Brailleschrift: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Im Sommer soll es auf dem Gelände der Stiftung aufgestellt werden.
Kurz vor der Auflösung gestanden - und dann ein zweites Mal gegründet
Eine weitere schwierige Zeit durchlebte die Stiftung zwischen 1957 und dem Anfang der 1970er Jahre. Nach Machtkämpfen der Blindenbildungseinrichtungen untereinander, Forderungen von Selbsthilfeorganisationen, politischen Entscheidungen und dem Rückzug der Geldgeber stand das Würzburger Blindeninstitut mit nur noch 16 blinden Schülern im Schuljahr 1972/73 vor der Auflösung. Nur die Entscheidung, auch sehbehinderte und geistig behinderte Kinder und Jugendliche zu unterrichten, sicherte den Fortbestand.
Von „exzellenter Aufbruchstimmung“ spricht Hans Neugebauer heute. Wegen des steigenden Bedarfs an entsprechenden Schulen gründete die Stiftung weitere Blindeninstitute in München (1978), Rückersdorf bei Nürnberg (1984), Regensburg (1990) und schließlich im thüringischen Schmalkalden (1994). Sie etablierte die Frühförderung Sehen, einen mobilen sonderpädagogischen Dienst, die Tagesstätte, die Werkstatt für blinde und sehbehinderte Menschen, die Förderstätte, verschiedene Wohnangebote für Kinder und Erwachsene sowie medizinisch-therapeutische und Beratungsangebote. Und wuchs zu einem Sozialunternehmen, das heute rund 5000 Menschen mit Behinderung unterstützt, berät und begleitet.
Bis heute prägt die humanistische Grundhaltung des Grafen zu Bentheim und seine Vision, blinden Menschen Bildung zu ermöglichen, das Leitbild der Stiftung. Dass der Gründer nicht nur Respekt vor dem Anderssein hatte, den einzelnen Menschen achtete, für gewaltfreie Erziehung stand, die Zöglinge in ihrer eigenen Konfession unterrichten ließ, den in der Erziehung tätigen Ordensschwestern das Missionieren verbot und dazu „jede Form von körperlicher Züchtigung“ – er war damit weit voraus.
Das Buch: Wolfgang Drave und Hans Neugebauer (Hrsg.): Die Blindeninstitutsstiftung. Ihre Geschichte“, Edition Bentheim der Johann Wilhelm Klein-Akademie GmbH, Würzburg, 2021, 624 Seiten, 49,50 Euro. Kostenfrei bietet die Stiftung den Band als PDF zum Download: www.blindeninstitut.de/geschichte