
Gegner der Corona-Maßnahmen gehen zu Tausenden auf die Straße, beklagen die Einschränkung von Grundrechten und die Pflicht, in bestimmten Bereichen Maske zu tragen. Am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Würzburger Julius-Maximilians-Universität beschäftigt sich Henrik Eibenstein intensiv mit den rechtlichen Herausforderungen durch die Corona-Pandemie. Der 25-jährige Diplom-Jurist gibt Antworten: Was darf der Staat, wo geht er zu weit?

Henrik Eibenstein: Weil ihn das Infektionsschutzgesetz dazu ermächtigt. Hier geht es weniger um ein "Dürfen" als ein "Müssen", das ergibt sich unmittelbar aus unserer Verfassung. In bestimmten Bedrohungssituationen darf der Staat gar nicht untätig bleiben, sondern ist zum Schutz der Grundrechte verpflichtet. Eine solche Schutzpflicht trifft ihn besonders im Hinblick auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Eibenstein: Der Staat ist da in keiner beneidenswerte Rolle. In kurzer Zeit hat er kollidierende Grundrechte in einen möglichst schonenden Ausgleich zu bringen. Die zum Infektionsschutz getroffenen Maßnahmen dürfen demnach nicht unverhältnismäßig sein. Er sieht sich aber auch einem so genannten „Untermaßverbot“ gegenüber und muss einen Mindeststandard an Schutz gewährleisten. Übermaß, Untermaß – dass gerade zu Beginn der Pandemie bei der Schutzpflichterfüllung der Bereich dazwischen stellenweise verlassen wurde, ist kein Geheimnis. So war unter anderem die vollständige Suspendierung der Versammlungsfreiheit zu Beginn der Pandemie verfassungswidrig.
Eibenstein: Damit ließe sich ein ganzes Buch füllen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist tief im Rechtsstaatsprinzip verwurzelt und gerade in Bezug auf „Corona-Maßnahmen“ fast immer der Knackpunkt, um den sich die Frage nach deren Rechtmäßigkeit dreht. Holzschnittartig gesagt: Im Widerstreit der kollidierenden Rechte stellt er sicher, dass einzelne Grundrechte nicht unter die Räder geraten. Maßnahmen sind dabei nur dann verhältnismäßig, wenn sie einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet, erforderlich und angemessen sind. Im Zweifelsfall entscheiden darüber die Verwaltungsgerichte.
Eibenstein: Grundrechte kollidieren ständig und täglich. Mit einigen feinen Ausnahmen stehen sie grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander. Sie müssen im Konfliktfall gegeneinander abgewogen werden. Bei Demonstrationen selbst steht zumeist die Versammlungsfreiheit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gegenüber.
Eibenstein: Wie immer kommt es auf den Einzelfall an. Unter dem Grundgesetz können schwerste Grundrechtseingriffe zum Schutz von Leib und Leben im Angesicht einer schweren gesamtgesellschaftlichen Krise vorübergehend gerechtfertigt sein. Je tiefer ein Grundrechtseingriff ist, desto größer ist jedoch auch sein Rechtfertigungsdruck. Deshalb wird eine – ohnehin zu befristende – Ausgangssperre zu den Ultima-Ratio-Mitteln zu zählen sein.
Eibenstein: In nahezu jedem Lebensbereich, unter anderem bei der Schulpflicht. Eltern kommt ein eigenes Elternrecht zu, wonach sie über die Erziehung und Entwicklung ihres Kindes entscheiden. Der Staat hat aber gleichsam einen Bildungs- und Erziehungsauftrag, der sich maßgeblich im Schulbereich entfaltet. Entsenden Eltern ihre schulpflichtigen Kinder aus Angst vor einer Infektion nicht zur Schule, stehen sich diese Rechtspositionen gegenüber. Das Kindeswohl sollte die oberste Richtschnur der Erziehung sein! Wo eine Gefährdung ausgeschlossen ist, wofür die Schulen umfassend zu sorgen haben, besteht kein Anlass, Kinder nicht zur Schule zu entsenden. Tun Eltern dies dennoch, drohen mitunter empfindliche Geldbußen.
Eibenstein: Ja, soweit bekannt vereinzelt in Niedersachsen. Ansonsten haben wir es strafrechtlich bei Corona vor allem mit Verstößen gegen Anordnungen zu tun. Man sollte sich bewusst machen, dass vorsätzliche Zuwiderhandlungen gegen die Coronaschutz-Verordnungen eine Straftat darstellen, wenn das SARS-CoV-2 Virus hierdurch verbreitet wird. Das ist im Übrigen auch keine bayerische Besonderheit, sondern bundesweit einheitlich. Das Strafmaß reicht hier bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe.
Eibenstein: Von einer zivilrechtlichen Haftung ganz abgesehen, ergibt sich durchaus eine strafrechtliche Relevanz. Je nach Einzelfall könnte ein Vorsatz- oder Zurechnungsnachweis schwierig werden. Soweit hieran keine Bedenken bestehen, kann die strafrechtliche Palette je nach Tat bis hin zu Tötungsdelikten reichen.
Eibenstein: Es kommt drauf an. Das Infektionsschutzrecht ordnen Juristen in die Kategorie des Gefahrenabwehrrechts ein. Der Staat hat einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum und ist insbesondere bei der Wahl der Mittel grundsätzlich frei. Die echte Hürde ist auch hier der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Man wird dabei besonders auf den zeitlichen und örtlichen Anwendungsbereich dieser Maßnahme schauen müssen.
Eibenstein: Das Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen hat schon im Juli mehrfach hinsichtlich der Obergrenze des Inzidenzwertes von 50 Coronavirus-Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner angemerkt, dass hieran keine durchgreifenden Bedenken bestünden. Auch das Verwaltungsgericht Würzburg ließ vor wenigen Tagen leise durchklingen, dass es an der Rechtmäßigkeit des Inzidenzwerts keine durchgreifenden Zweifel hat. Sinn und Zweck des festgelegten Wertes ist nach zutreffender Ansicht des Gerichts, ab seiner Übertretung eine Reaktion der Behörden auf eine regionale Dynamik sicherzustellen.
Eibenstein: Ja, zweifelsohne. Die entscheidende Frage ist, ob eine solche Ungleichbehandlung sachlich gerechtfertigt ist. Die Bayerische Infektionsschutzmaßnahmen-Verordnung gibt den Städten bzw. Landratsämtern die Möglichkeit, weitergehende Anordnungen zu treffen. Bemerkt man beispielsweise besonders lebhafte Menschenansammlungen in bestimmten Gebieten und damit ein höheres Ansteckungsrisiko, können Maßnahmen im Einzelfall auf diesen Bereich beschränkt werden. Entscheidend ist, dass die Behörde den Kreis nicht willkürlich zieht und fortlaufend überprüft, ob die Maßnahme räumlich sowie zeitlich aufrechterhalten werden muss.
Eibenstein: Vorsichtig gesagt: offen. Die Frage ist aus rechtlicher Sicht eines der großen Corona-Themen. Dabei fängt die Problematik damit an, dass das Infektionsschutzgesetz bis heute keinen Entschädigungsanspruch für diese Gewerbetreibenden bereithält und mündet am juristischen Hochreck, wenn es darum geht, ob diese Schließungsanordnungen tatsächlich einen Eingriff in die Eigentumsfreiheit darstellten. Abschließend wird diese Frage wohl in einiger Zeit höchstrichterlich zu entscheiden sein.
Eibenstein: Das darf natürlich kein Argument sein. Der Schutz zentraler Rechtsgüter – das ist eine historisch gegründete Staatsaufgabe ersten Ranges. Wenn der Staat für Eingriffe zu entschädigen hat, darf eine haushaltspolitische Lage daran nichts ändern.
Eibenstein: Richter sind schon nach dem Grundgesetz unabhängig. Gerade zu Beginn der pandemischen Situation ließen die Gerichte viele Schutzmaßnahmen nicht zuletzt aufgrund der Unbekanntheit des SARS-CoV-2 Virus zunächst unbeanstandet. Hier sei an den weiten Gestaltungsspielraum der Exekutive erinnert. Krisen sind aber selbstverständlich keine rechtsfreien Momente. Die Justiz hat in den vergangenen Monaten oft genug ihre Unabhängigkeit bewiesen und unverhältnismäßige Eingriffe teilweise mit Signalwirkung aufgehoben. So war die Schließungsanordnung eines Tattoo-Studios rechtswidrig, wenn gleichzeitig eine auf ähnlichen Körperkontakt ausgerichtete Physiotherapie-Praxis ihrem Geschäft nachgehen konnte.
Eibenstein: Ziemlich nüchtern. Das ist primär eine politische Frage. Das Gesetz sieht eine Beteiligung der Fraktionen im bayerischen Landtag hier überwiegend gar nicht vor. Für Verordnungen, die sich aus dem Infektionsschutzgesetz ergeben, sind bundesweit die Landesregierungen ermächtigt. In Bayern wurde diese Ermächtigung beanstandungsfrei auf das Gesundheitsministerium übertragen.
Eibenstein: Es gibt einen solchen "Immunitätsausweis" sogar bereits. Bestimmte Arbeitgeber können eine Anstellung von einem ausreichenden Immunschutz abhängig machen, zum Beispiel in der medizinischen Versorgung. Ob ein solcher Nachweis auch für die breite Bevölkerung möglich wäre? Er wäre jedenfalls ein weniger grundrechtsintensives Mittel gegenüber einer etwaigen Impfflicht.
Eibenstein: Gegen Masern gibt es sie bekanntlich. Sowohl seitens des Robert Koch-Instituts als auch parteiübergreifend in der Politik lehnt man sie im Hinblick auf das SARS-CoV-2 Virus bislang strikt ab. Fragen Sie mich nur nach der Möglichkeit einer Impfflicht, so sieht sie das Infektionsschutzgesetz jedenfalls vor. Das Bundesgesundheitsministerium kann durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates anordnen, dass bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen teilzunehmen haben – wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und wenn mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist.