Angst und Angststörungen gehören zu den Forschungsschwerpunkten des Würzburger Psychologie-Professors Paul Pauli. Der Psychologe leitet seit 2001 an der Uni Würzburg den Lehrstuhl für Biologische und Klinische Psychologie und Psychotherapie. Im Interview spricht der Experte über die Angst in Zeiten der Corona-Krise.
Paul Pauli: Panik ist das nicht. Denn Panik ist nach unserer Definition etwas, was ganz plötzlich auftritt, was vom panischen Schrecken herkommt – nach dem Gott Pan, der es der griechischen Mythologie zufolge liebte, Menschen mit Erdbeben zu erschrecken. Wer panisch ist, erlebt starkes Herzklopfen, ganz massive Todesangst.
Pauli: Angst in dieser Situation ist sicherlich nachvollziehbar. Wir unterscheiden in der Forschung zwischen Furcht und Angst – und Angst ist schwerer zu händeln. Furcht nämlich ist gerichtet auf eine wahrnehmbare Bedrohung; etwa einen großen Hund, der angreifen will. Die Furcht löst aus, dass ich sofort reagiere. Im Fall des Hundes: Ich lege so viel Abstand zwischen mich und das Tier wie möglich. Das ist das Gute an der Furcht: Sie verschwindet in dem Moment, wo die real wahrnehmbare Bedrohung verschwindet. Ist der Hund weg, ist die Furcht weg. Ist die Bedrohung allerdings nicht klar wahrnehmbar, sondern intransparent und nicht konkret vorhersehbar, verspüre ich Angst – wie jetzt, angesichts von Corona.
Pauli: Angst bedeutet, dass ich irgendwie das Gefühl habe, bedroht zu sein, aber nicht weiß, wo genau die Bedrohung lauert, aus welcher Ecke sie kommt – und auch nicht weiß, wann ich sicher bin. Und das bedingt das Unangenehme an der Angst: dass sie so lange anhält. Angst führt zu einer ständigen Anspannung. Sie führt dazu, dass ich ständig nach Informationen suche, die meine Angst bestätigen.
Pauli: Nur auf den ersten Blick, denn das ist eigentlich ganz logisch. Stellen Sie sich ein Tier vor in einer Gegend, wo es einen potentiell tödlichen Feind erschnüffelt. Das Tier sieht den Feind aber nicht, die Bedrohung ist – und das ist das Typische an der Angst – diffus, nicht konkret. Also muss das Tier in dieser Situation immer aufpassen, muss sich vorsichtig verhalten und immer bereit sein, sich neu zu orientieren. Ist die Spur des Feindes alt oder neu? Kommt der Feind näher? Vielleicht von hinten? Wo könnte er sein? Genau das passiert mit uns jetzt. Wir hören ständig Radio, lesen Zeitung, sind dauernd im Internet, suchen ständig nach Informationen, die uns den 'Feind' Corona greifbarer machen. Und leider neigen wir dann dazu, Informationen, die unsere Angst bestätigen, zu glauben, was dann die Angst verstärkt und verfestigt.
Pauli: Sicher. Angesichts dieser Situation, deren Entwicklung wirklich nicht vorhersagbar ist, sind wir ständig auf dem Sprung, haben einen erhöhten Muskeltonus, schwitzen schneller, schlafen schlechter, entspannen uns weniger leicht. Biologisch gesehen ist das in einer Gefahrensituation natürlich sinnvoll, weil es mir eine schnellere Reaktion ermöglicht. Und diese Anspannung hält lange an. Tatsächlich müsste eine Information, die gegen eine Gefahr spricht, sehr stark sein, um zu bewirken, dass meine Anspannung nachlässt. So soll es ja auch sein. Stellen wir uns nochmal das Tier vor, das die vage Ahnung von einem Feind hat. Es wäre ja fatal für das Tier, würde seine Angst vor dem Feind zu früh nachlassen. Biologisch gesehen sind wir also programmiert, nach Informationen zu suchen, die Angst bestätigen. Denn das sichert das Überleben.
Pauli: Es gibt klar verschiedene Veranlagungen. Wenn ich sonst auch eher der ängstliche Typ bin, reagiere ich jetzt auch ängstlicher als der coole Nebenmann. Das kann genetisch angelegt sein, kann aber auch auf Vorerfahrungen gründen. Ein sehr großer Unterschied besteht auch zwischen Männern und Frauen.
Pauli: Grundsätzlich bestätigt die Forschung, dass Frauen ängstlicher sind als Männer. Auch Angststörungen treten bei Frauen dreimal so häufig wie bei Männern auf. Man könnte aber auch sagen: Frauen verhalten sich vorsichtiger, Männer verhalten sich unvorsichtiger. Ein möglicher Grund, warum in China mehr Männer als Frauen von Corona befallen wurden, könnte sein, dass Männer weniger Angst vor dem Virus hatten und sich deshalb weniger geschützt haben.
Pauli: Bei einer Angststörung ist die Angst deutlich stärker als es der Bedrohung entspricht. Und sie hält länger an. Aber das wichtigste Indiz für eine Angststörung ist, dass die Person darunter leidet. Dann nämlich, wenn die Angst dazu führt, dass die Person sich in ihrem sozialen, beruflichen, gesellschaftlichen Umfeld eingeschränkt fühlt. Beispiel Fliegen: Wer Angst hat, in ein Flugzeug zu steigen, dies aber gar nicht muss, leidet nicht. Wer aber die gewünschten Familienurlaube alljährlich lahmlegt, weil er das Flugzeug nach Mallorca einfach nicht besteigen kann, leidet drunter, sich ängstlich zu fühlen und die anderen einzuschränken. Auf Corona bezogen: Wer jetzt längere Zeit jede Nacht ängstlich im Bett sitzt und aus lauter Angst um drei Uhr nachts regelmäßig seine engsten Verwandten anruft, um ihnen zu erklären, dass er die Situation nicht aushält, leidet unter einer Angststörung.
Pauli: Sehr ängstliche Personen brauchen sehr klare Informationen. Was tue ich wann? Was tue ich besser nicht? Diese Notwendigkeit zu klaren Informationen kann man durchaus auf die Politik ausdehnen: Klare Ansagen sind angebracht; gerade sehr ängstliche Personen reagieren sehr sensibel und misstrauisch, wenn sie das Gefühl haben, ihnen würden wichtige Informationen vorenthalten. Auf Corona bezogen heißt das: Ängstliche Menschen brauchen ehrliche, konkrete Informationen darüber, wie hoch ihr konkretes Risiko ist. Ändert sich die Risikobewertung, muss auch dazu schnell eine neue, solide, verlässliche Information kommen. Verheimlichen macht keinen Sinn, denn das wird langfristig erkannt und bestärkt Angst und Misstrauen.
Pauli: Es hilft, sich Rückzugsorte zu suchen. Es hilft, sich jeden Tag eine Auszeit zu nehmen, in der man sich ausklinkt und auf sich zurückzieht und sich vornimmt, sich nicht mit der Bedrohung zu beschäftigen. Bewährte Hilfen sind Entspannungs- und Atemübungen etwa aus dem Yoga oder dem Tai-Chi. Kurzfristig hilft es natürlich auch, sich einfach abzulenken, mit einem Film, einem Spiel oder einer schönen Musik, um das Erregungsniveau zu reduzieren.
Pauli: Schwierige Frage. Wenn Angst da ist, verändert sich das Verhalten in dem Sinn, dass sich jeder vorsichtiger verhält, jeder misstrauischer ist. In dieser Situation versucht jeder, seine eigenen Möglichkeiten zu erhöhen – was man ja jetzt schon daran sieht, dass manche beim Einkaufen maximal zugreifen, um vermeintlich seine Chancen und die seiner Familie zu steigern. Sicherlich wird eine Folge der kollektiven Angst sein, dass man sich mehr zurückzieht auf seine 'Gruppe', sonstige soziale Bindungen weniger wichtig nimmt.
Pauli: Ja. Denn die immer präsente Angst lenkt mich in die Richtung: 'Du musst was tun, um dich selbst zu schützen'. Es gibt, evolutionsbiologisch betrachtet, in uns ältere Gehirnzentren wie das limbische System, die bei Angst aktiviert werden und dieses Verhalten steuern. Wir können und sollten mit jüngeren Zentren wie dem präfronalen Kortex gegensteuern und unseren Verstand und unser Verantwortungsgefühl einschalten. Aber gegen den Angstimpuls zu gehen, kostet uns gerade in der aktuellen Situation mehr Kraft als sonst.