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WÜRZBURG
Claudia Roth beklagt „Wettlauf der Schäbigkeit“
Gespräch mit Claudia Roth       -  _
Foto: Daniel Peter
Michael Czygan
 |  aktualisiert: 30.05.2016 03:35 Uhr

Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (61) freut sich, als Ehrengast des Africa Festivals mal wieder in Würzburg zu sein. Kulturelle Vielfalt, das ist eines der Lieblingsthemen der Grünen-Politikerin. Ein anderes sind Demokratie und Menschenrechte. Im Interview findet Roth deutliche Worte gegen die Türkei-Politik von Europäischer Union und Bundesregierung.

Frage: Wenn man bei Google Claudia Roth und Kuba eingibt, kommen zuerst Meldungen von 2003, als man Ihnen die Einreise verweigert hat. 2015 sind sie nun dort gewesen. Was hat sich verändert?

Claudia Roth: Ich durfte damals als Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung nicht einreisen, weil ich die Einschränkung politischer Freiheiten kritisiert hatte. Jetzt bin ich mit dem Bundestags-Unterausschuss für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik gereist und habe herzenswarme Menschen getroffen. Menschen, die Freude am Leben haben, vor allem aber auch Erwartungen an ihre Zukunft, dass die Öffnung vorangeht, und zwar nicht nur für internationale Konzerne. Kuba als Gastland beim Africa Festival ist topaktuell. Ich hoffe sehr, dass dies Auftrieb gibt, damit endlich ein Kulturabkommen zwischen Deutschland und Kuba abgeschlossen wird. Auf diesen zivilgesellschaftlichen Austausch warten viele Gruppierungen.

Woran scheitert das bisher?

Roth: In der kubanischen Regierung gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, wie weit die Öffnung gehen soll. Manche fürchten, dass mit einer Stärkung der Zivilgesellschaft auch der Wunsch nach politischen Freiheiten stärker wird. Auch wir sollten nicht verzichten, bei aller Anerkennung sozialer Errungenschaften auf Kuba Dinge wie Presse- und Meinungsfreiheit anzumahnen.

Aktuell beschäftigt Sie vor allem die Lage in der Türkei. Die EU verlangt von der Regierung Erdogan die Reform ihrer Anti-Terror-Gesetze, sonst werde es keine Visafreiheit für Türken geben. Europa macht Druck. Das müssten Sie eigentlich begrüßen.

Roth: Ja, wenn es glaubwürdig und nicht so elend doppelbödig wäre. Die Visafreiheit ist ein Versprechen, das man den Menschen in der Türkei schon vor Jahrzehnten gegeben hat. Es müsste längst umgesetzt sein. Dies mit diesem Anti-Flüchtlings-Deal zu verknüpfen, halte ich für falsch und gefährlich.

Warum?

Roth: Weil mit diesen Vereinbarungen ganz offensichtlich ein Schweigegelübde gegenüber der inneren Situation in der Türkei verknüpft ist. Journalisten, die unabhängig berichten möchten, droht dort Gefängnis. Die politische Opposition wird durch die Aufhebung der Immunität von HDP-Abgeordneten kriminalisiert. In den kurdischen Gebieten tobt ein brutaler Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Fast jede Woche passiert eine weitere Entrechtung hin zu einem autokratischen System a la Putin. Gewaltenteilung besteht im System Erdogan nicht mehr. Wenn all das aus innenpolitischen Gründen – nämlich um Flüchtlinge fern zu halten – kein Thema für unsere Regierung ist, verraten wir die Demokraten in der Türkei.

Was wäre die Alternative?

Roth: Angesichts der Flüchtlingstragödie gibt es keine Alternative zu einer gemeinsamen europäischen Aufnahmepolitik. Was wir derzeit erleben, ist ein Wettlauf der Schäbigkeit. Europa muss sich entscheiden, ob seine Grundwerte noch gelten. Oder wollen wir ein egoistisches Europa der Vaterländer, das sich mit Mauern umgibt und das Elend der Welt nur noch durch den Zaun betrachtet? Ich weiß, das ist nicht einfach. Aber wenn ich sehe, wie viele Gipfel es zur Finanzkrise gegeben hat.

.. Jetzt müssen diejenigen, die bereit sind, für Europa zu kämpfen, vorangehen und nicht vor lauter Angst vor Rechtspopulisten einknicken. Dazu gehört, Fluchtursachen zu bekämpfen. Und nicht Rüstungsgüter beispielsweise an Saudi-Arabien zu verkaufen, wofür sich der deutsche Außenminister jetzt ausgesprochen hat.

Kann Deutschland jedes Jahr eine Million Flüchtlinge aufnehmen?

Roth: Ich will nicht über Zahlen spekulieren. Aber ich weiß auch, dass viele Kommunen und viele Menschen weiter bereit sind zu helfen. Dass Integration nicht von heute auf morgen geht, ist richtig. Aber deshalb dürfen wir nicht von der Willkommenskultur abrücken. Gerade auch in unserem schönen Bayern wird da Vorbildliches geleistet. Und so habe ich nicht verstanden, warum der bayerische Ministerpräsident nicht stolz vor jeder Kamera auf dieses Engagement verweist, sondern stattdessen die Leute mit Sprüchen wie „Wir schaffen das nicht“ und seinem Merkel-Mobbing entmutigt.

Anders gefragt: Muss Deutschland nicht angesichts der Weltlage jedes Jahr eine Million Flüchtlinge aufnehmen?

Roth: Deutschland muss dafür sorgen, dass möglichst wenige Menschen fliehen müssen. Aber nicht, in dem man Mauern errichtet, sondern fragt, wie trägt unsere Landwirtschaftspolitik, unsere Handelspolitik, unsere Rüstungsexportpolitik dazu bei, dass Menschen gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen. Wenn wir nicht absoluter Vorreiter sind beim Klimaschutz, dann, so sagt der Potsdamer Klimaforscher Hans-Joachim Schellnhuber, übrigens ein Kanzlerin-Berater, reden wir demnächst nicht mehr von 60 Millionen, sondern von 400 bis 500 Millionen Geflüchteten weltweit.

Ein kurzer Blick noch auf die Lage bei den Grünen. Demnächst steht wieder eine Urwahl der Spitzenkandidaten an. Wer sind Ihre Favoriten?

Roth: Das sind diejenigen, die die meisten Stimmen kriegen. Eine Urwahl ist gelebte Demokratie. Ich habe es selbst erfahren. (lacht) Es wird spannend. Wir dürfen nur nicht den Fehler machen, nur über Personal zu reden. Dafür sind die Herausforderungen zu groß.

Muss es unbedingt eine Doppelspitze sein?

Roth: Ja, selbstverständlich. Die Doppelspitze hat uns stark gemacht.

Und nach der Wahl? Kommt Schwarz-Grün?

Roth: Wir sollten jetzt keine Farbdebatten führen. Es geht darum zu entscheiden, mit welchen Themen wir Wahlkampf führen. Es geht um Flüchtlingspolitik, Klimaschutz, um Verteilungs- und Teilhabegerechtigkeit.

 
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  • H. S.
    Keine Meinung, keine Aussage, nur Platitüden. Aber so sind wir es gewohnt.
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  • C. K.
    Es verblüfft mich immer wieder, wie ignorant-dämlich hier so manche hingerotzten Zwei-Zeilen-Comments ausfallen, die weder den Anschein zu erwecken versuchen, den Artikel überhaupt gelesen, geschweige denn, ihn verstanden zu haben. :-o

    Nun ja, jeder hat selbstverständlich das Recht sich so gut wie möglich zu blamieren, aber dem Autor des Interviews hab Dank, dass er ein lesenswertes Gespräch mit Frau Roth geführt hat, die zu den wenigen Stimmen in unserem Bundestag gehört, die kluge Worte und Gedanken im Klartext spricht.
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  • I. F.
    ...von Ihnen eigentlich bewirken?

    Was haben Sie denn zum Thema mitzuteilen?

    MfG
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