
Brigitte Fassbaender muss einen Melodiefetzen nur andeuten, und man versteht sofort, warum ihr das Opern- und Konzertpublikum auf der ganzen Welt jahrzehntelang zu Füßen lag. Jeder Ton, jeder Vokal hat eine Richtung, einen Sinn, eine Emotion. Nicht zuletzt deshalb ist der Name Fassbaender einer der ganz großen der Musikwelt.
Geboren 1939 in Hamburg, hatte die Mezzosopranistin bereits mit 21 ihr erstes festes Engagement an der Bayerischen Staatsoper. Es folgte eine beispiellose Karriere als Sängerin, Operndirektorin, Intendantin, Festivalleiterin und Regisseurin. Und als Lehrerin: Brigitte Fassbaenders Meisterklassen sind höchst begehrt. Jochen Kupfer, Bariton und Gesangsprofessor an der Würzburger Musikhochschule, ist deshalb sichtlich stolz, dass er die 82-Jährige gewinnen konnte - für vier Tage, einen länger als bei ihr üblich. "Unter ihrer Regie hatte ich mein Rollendebüt in ,Ariadne auf Naxos' in Meiningen", sagt Kupfer, "da war der Draht schon da."
Wenn Brigitte Fassbaender "nur dasitzt", ist alles an ihr Konzentration und Bewegung
Zwischen zwei Unterrichtseinheiten im Kleinen Saal der Musikhochschule hat Brigitte Fassbaender Zeit für ein kurzes Interview. Auf den Vorschlag, das Foto zum Artikel könne ja während der nächsten Einheit entstehen, reagiert sie scheinbar skeptisch: "Aber ich sitze doch nur da." Schwer zu sagen, ob das ein bewusstes Understatement ist. Aber wenn Brigitte Fassbaender "nur dasitzt" und unterrichtet, ist das alles andere als statisch oder gar langweilig.
Alles an ihr ist Konzentration. Und Bewegung. Mit Armen und Händen modelliert die 82-Jährige mit, was sie vorsingt, ihr ganzer Körper durchläuft sichtbar die Spannungskurven der Musik. Hier sitzt eine Künstlerin, die ganz bei sich ist. Die sich früher freimütig zu quälenden Selbstzweifeln bekannt hat und heute aus einem riesigen Erfahrungsschatz schöpft. Die jedes Stück, das die Studierenden vortragen, bis ins kleinste Detail kennt und dennoch das Lernen selbstverständlich als Aufgabe, ja Geschenk für ein ganzes Leben begreift.

Angesprochen auf das Problem, dass in der Pandemie viele Menschen nicht bereit sind zu lernen oder auf die Wissenschaft zu hören, wird Fassbaender deutlich: "Ich finde die Leugner und Impfgegner unverantwortlich. Soviel Dummheit ist mir unheimlich." Sie selbst sei dreimal geimpft: "Es ist doch selbstverständlich, dass man miteinander versuchen muss, die Pandemie zu überwinden." Sie verstehe die Maßnahmen, sagt sie. Und wird - nur einen Hauch - sarkastisch, als es um gewisse Ungleichbehandlungen geht: "Natürlich ist der Fußball viel, viel wichtiger."
Aus ihrer Skepsis gegenüber dem deutschen Musikhochschulsystem macht sie keinen Hehl
Brigitte Fassbaender ist für klare Ansagen bekannt. Aus ihrer Skepsis gegenüber dem deutschen Musikhochschulsystem macht sie kein Hehl. "Viele studieren so lange, dass es dann zu spät ist für ein Engagement. Dabei lernt man in der Praxis das meiste." Allerdings, wer in jungen Jahren ein Engagement annehme, müsse unbedingt seinen Ehrgeiz zügeln. Und dürfe die großen Rollen erst singen, wenn die Stimme soweit ist: "Bei einem Bass kann das bis Anfang 40 dauern."
Oft aber bekämen junge Sängerinnen und Sänger heute diese Zeit nicht: "Es gibt kaum mehr Intendanten, die wissen, wie man Sänger kontinuierlich entwickelt", beklagt Fassbaender. Stattdessen würden viele Talente bereits in ihren Anfangsjahren verheizt: "Sie kennen ja den Jugendwahn."
Und so bleibe der deutsche Nachwuchs im Wettbewerb oft auf der Strecke: "Schauen Sie mal die Besetzunglisten an den Häusern an – kaum mehr deutsche Namen." Aus China, Korea, Osteuropa käme eine Vielzahl schöner Stimmen. "Dort gibt es eine ganz andere Früherziehung und ganz anderes Interesse an dieser Kultur. Die sind einfach besser ausgebildet." Irgendwann werde das zum Aussterben der Operette führen, prognostiziert die Sängerin: "Weil keiner mehr Dialoge sprechen kann."
In Jeans, purpurfarbenem Hoodie und silberglänzenden Sneakers sitzt sie dann also an der Würzburger Musikhochschule an ihrem Tischchen auf der Bühne und hört genauestens zu, was etwa der Tenor Alexander Geiger aus zwei Strauss-Liedern macht. Aus dem anfänglichen "Sie" ("Erzählen Sie mir beim Singen ein Geheimnis!") wird schnell - in unbedingter Zugewandtheit - ein "Du".
Die Künste sind für Brigitte Fassbaender Lebensmittel und stärkster Lebensinhalt
Die Lehrerin schafft es, an winzigen Details, an der großen Linie und am Körper gleichzeitig zu arbeiten, ohne, dass auch nur ein Hauch von Verwirrung entsteht. Immer wieder stellt sie Fragen zur Deutung von Textstellen: "Da heißt es, Sonnenschein stiehlt sich durch die Blätter – ist das positiv?" Arbeitet an Vokalen: "Ich stelle mir da immer ein langes ,I' vor. Wie so ein römisches ,I'." Gibt Tipps zum Lernprozess an sich: "Singen ist Körpererinnerung. Es ist wichtig, dass wir uns bewusst machen, was in uns passiert. Dass es kein Zufall ist, wenn etwas gelingt."
Als Alexander Geiger von der Bühne geht, spürbar erquickt und inspiriert, wird klar, was Brigitte Fassbaender zuvor gemeint hatte, als es um die Frage nach der Relevanz von Kunst und Kultur ging. In der Pandemie aber auch sonst: "Die Künste sind für mich Lebensmittel. Mein stärkster Lebensinhalt", sagt die 82.Jährige. Und: "Ich verstehe Menschen, denen das nicht so geht – nein, ich verstehe sie nicht. Aber ich akzeptiere sie."
Im Hochschulfoyer trifft Initiator Jochen Kupfer derweil auf einen Professorenkollegen, der gerade beim Meisterkurs zugehört hat. Und der nur einen Satz sagt: "Was für eine Lehrerin!"