Ob's Zufall war, dass der Wolf im Spessart auftauchte, just als die Wissenschaftler den Vertrag unterschrieben? Einfach eine schöne Fügung? Gerade hatte die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG das Projekt bewilligt. Gerade war Professorin Michaela Fenske, die neue Inhaberin des Lehrstuhls für Europäische Ethnologie/Volkskunde von Berlin nach Würzburg gezogen. Da gab es im Sommer gleich zwei Mal nacheinander die Meldung: Wolf im Landkreis Main-Spessart gesichtet.
„Wolfsmanagement“ aus kulturantropologischer Sicht betrachtet
Sicher nur Zufall – aber es passte. Denn Michaela Fenske wird sich mit ihren Mitarbeiterinnen und Kollegen in den nächsten Jahren mit der Rückkehr der Wölfe befassen, genauer: mit kulturanthropologischen Studien zum Prozess des Wolfsmanagements in Deutschland. Nachdem die Tiere im 19. Jahrhundert ausgerottet worden waren, kehren sie nach und nach zurück. Und werden gefürchtet, angefeindet, geduldet, manchmal auch freudig begrüßt. Wie setzt sich die Gesellschaft mit dem tierischen Migranten auseinander? Wie wird das Zusammenleben mit wilden Wölfen „gemanagt“? Genau darum soll es in dem Projekt der Europäischen Ethnologin gehen.
Unter anderem werden zwei Promovierende die nächsten drei Jahre darüber forschen und neben ihren Promotionen auch eine Wanderausstellung zum Thema erarbeiten.
Dabei komme sie, sagt Michaela Fenske mit Augenzwinkern, eigentlich von einer viel kleineren und geschätzten Art: „Ich bin mit einem sympathischen Tier gestartet, mit der Honigbiene.“ In den vergangenen drei Jahren war sie als Heisenbergstipendiatin der DFG am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Uni Berlin und beschäftigte sich mit grünen Städten und urbanen Naturen. Also damit, um in Fenskes Worten zu sprechen, „wie Menschen mit Bienen Stadt verhandeln“. Am Beispiel Berlin untersuchte die Europäische Ethnologin die Imkerei in der Großstadt – und auch, wie mit Bienen Politik gemacht wird.
Alltagskultur im Blick
Als Europäische Ethnologin hat Michaela Fenske historische Entwicklungen ebenso im Blick wie Trends der Zeit. „Alles was ist, ist geworden“, sagt die Professorin. „Und wir sind als Alltagskulturforscher immer sehr aktuell.
“ Für Human Animal Studies, für Studien zum Zusammenwirken von Mensch und Tier, interessierte sie sich schon in ihrer Zeit an der Universität Göttingen. Es ist ein junges Forschungsfeld, aufgekommen in den anglo-amerikanischen Ländern in den 1990er Jahren. „Eine Anthropologie über den Menschen hinaus, bei der Tiere ebenso wie Menschen als aktive Partner gesehen werden“, sagt Michaela Fenske. Soziologen, Psychologen, Historiker, Literaturwissenschaftler, Erziehungswissenschaftler, Philosophen und Anthropologen untersuchen dabei die vielschichtigen, vielfältigen Beziehungen und Interaktionen zwischen Menschen und Tieren. Wie und wo kommen welche Tiere in Kunst, Medien, Literatur und gesellschaftlichen Debatten vor? Wie haben sich unser Umgang mit Nutztieren, unsere Einstellung wild lebenden Tieren gegenüber verändert?
Und jetzt also: von der „lieben“ Honigbiene zum „bösen“ Wolf. Oder doch nicht so bösen? Vor zwei Jahren war Michaela Fenske in Mailand bei einer europäischen Tagung in einem Panel über die „Rückkehr der Wildnis“ nicht nur mit Jagd-, sondern auch mit Wolfsforschern zusammengekommen. Das Treffen war Teil einer internationalen Kooperation von Ethnologinnen und Ethnologen, die die Rückkehr der Wölfe über Wissenschafts- und Ländergrenzen hinweg gemeinsam verfolgen.
Aktuell gibt es 60 Wolfsrudel in Deutschland
Vor 17 Jahren, anderthalb Jahrhunderte nach der Ausrottung der Art in Deutschland, wanderte das erste Wolfspaar aus Polen nach Sachsen. Gerade hat das Bundesamt für Naturschutz (BfN) eine neue Erhebung veröffentlicht: Danach sind aktuell in Deutschland 60 Wolfsrudel bestätigt – 13 mehr als vor einem Jahr.
Vor allem im norddeutschen Tiefland kommen die graubraunen Raubtiere vor, zwischen sächsischer Lausitz über Brandenburg bis nach Niedersachsen. Die Zahl der Wolfspaare sank dem Monitoring zufolge indes von 21 auf 13. Und sesshafte Einzelwölfe wurden drei gezählt, einer weniger als im Beobachtungsjahr zuvor.
„Für den Naturschutz sind diese Zahlen zwar erfreulich, jedoch weist die Art noch immer eine insgesamt ungünstige Erhaltungssituation auf“, sagt die Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz, Beate Jessel. Vor allem der Straßenverkehr gefährde den Wolf. „Und daneben stellen illegale Abschüsse ein erhebliches Problem dar.“
Seit der Rückkehr der Wölfe im Jahr 2000 seien insgesamt 201 Tiere tot aufgefunden worden, davon 140 überfahren, 26 illegal getötet. „Die Rückkehr des Wolfes stellt uns in unserer heutigen Kulturlandschaft vor eine besondere gesellschaftliche Herausforderung“, sagt Beate Jessel. Die „Angst der Menschen vor direkten Begegnungen“ und die Sorgen der Weidetierhalter müssten sehr ernst genommen werden.
Viele Stimmen, viele Mythen
Genau darum geht es auch im Projekt der neuen Lehrstuhlinhaberin an der Universität Würzburg: „Wenn es um Wölfe geht, werden sehr viele kontroverse Stimmen laut. Wir versuchen, diese Multivokalität und diesen Prozess zu verstehen“, sagt Michaela Fenske. „Worum geht es den Politikern, den Pferdehaltern, den Schäfern, den Jägern, den Tierschützern, den Bürgerinnen und Bürgern? Und ist ein Zusammenleben möglich?“
Der „böse“ Wolf ist also wieder da – und mit ihm die Angst. „Dabei sieht ihn keiner“, sagt die Europäische Ethnologin, „in der Regel haben wir ja keine Begegnung mit dem Tier.“ Man sieht Wölfe in Tierparks oder ausgestopft im Museum – aber kaum in freier Natur. „Trotzdem beschäftigen sie unsere Fantasie.“ Und abgesehen von Romulus und Remus, die dem Gründungsmythos Roms nach von einer Wölfin gesäugt wurden, ziehen sich fast ausschließlich negativ besetzte Wolfsgeschichten durch die Jahrhunderte. Der böse Wolf von Rotkäppchen und der mit den sieben Geißlein aus den Grimm'schen Märchen sind da nur die populärsten.
Klug, intelligent und effizient
Wölfe sind erheblich mobiler als andere wilde Großtiere, sind klug, intelligent und als Jäger effizient. „Ein spannendes Gegenüber, um etwas hineinzuprojizieren“, sagt Fenske. Und erinnert an die Cartoons des Trickfilmzeichners Tex Avery, bei dem der Wolf ein Lebemann ist, der im Cadillac vorfährt. „Der Wolf ist auch ein Inbegriff des Männlichen, Animalischen.“ Und in den französischen Vorlagen der prüden Märchen des Wilhelm Grimm stecke viel Sexualität: „Da wird die eigene Triebhaftigkeit in das Tier projiziert.“
Im neuen kulturanthropologischen Projekt wollen die Forscher unter anderem Vorstellungen, Erzählungen und das Wissen über die Tiere analysieren. „Wir haben im 18. Jahrhundert angefangen, Natur und Kultur zu trennen“, sagt die 51-jährige Europäische Ethnologin. „Das hat uns in die Moderne geführt und geholfen, so erfolgreich, urban und industrialisiert zu sein.“ Die wilden Wölfe aber zeigen, dass auch wir Menschen den Spielregeln der Natur unterworfen sind.
Die finnische Perspektive
Wie ist das zum Beispiel in Finnland, wo das Nebeneinander von Mensch und Wolf alltäglicher ist als in Deutschland? An Fenskes Lehrstuhl ist gerade für einige Wochen eine weitere Wolf-Expertin zu Gast: Professorin Helena Ruotsala, Leiterin der Abteilung Europäische Ethnologie an der Universität Turku. Ruotsala kommt aus Lappland, ist in einer Rentierzüchter-Familie aufgewachsen, hat über Rentierhaltung promoviert und untersucht heute neben der Alltagskultur der Saami auch, wie sich die Beziehungen zwischen Mensch, Hirtenhund und Herde verändert haben. Und mit finnischer Perspektive beschäftigt sie sich auch mit dem Thema Wolf. „Ein interessantes Tier“, sagt die Ethnologin, „schön, aber ein bisschen gefährlich und mysteriös.“
Die finnische Forscherin ist einmal einem Wolf in freier Natur begegnet. In Russland, „aber aus der Ferne“.
Welche Prozesse und Debatten setzen die rückkehrenden Wölfe jetzt in den europäischen Gesellschaften in Gang? Worum geht es bei den vielstimmigen Diskussionen um den Wolf wirklich? Wofür steht das Raubtier? Diese Fragen beschäftigen die beiden Europäischen Ethnologinnen gleichermaßen. Michaela Fenskes Team bereitet dem Sorbischen Institut in Bautzen und Schweizer Kollegen für das kommende Jahr eine Tagung in der Lausitz vor, in der es um die Mensch-Wolf-Beziehungen geht.
„Was uns interessiert, ist das Zusammentreffen von Tier und Gesellschaft“, sagt Helena Ruotsala. „Die Wölfe spazieren in eine Landschaft und Zeit, die viele Probleme hat.“ Wo steht der Mensch mit all dem, was er weiß und kann – oder nicht – zu Beginn des dritten Jahrtausends? Diese Grundfrage schwingt bei den Studien der Europäischen Ethnologen stets mit – in Deutschland, Finnland, anderswo. Und Michaela Fenske formuliert es für das neue Projekt so: „Was handelt die Gesellschaft an den Wölfen und am Wolf als Figur ab?“ Die Antworten hierauf werden die Wissenschaftler sorgfältig erarbeiten.