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WÜRZBURG/KARLSTADT
Bildungskritik: „Schule darf und muss auch anstrengend sein“
Sieht die deutsche Bildungspolitik auf Abwegen: Josef Kraus, langjähriger Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbandes.
Foto: Thomas Behr | Sieht die deutsche Bildungspolitik auf Abwegen: Josef Kraus, langjähriger Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbandes.
Andreas Jungbauer
 |  aktualisiert: 27.04.2023 05:24 Uhr

„Titan“, „Patriarch“, „Kraftmeier“ der Bildungspolitik: Josef Kraus hat schon etliche - auch fragwürdige - Ehrentitel erhalten. Bis Juli stand er 30 Jahre lang an der Spitze des Deutschen Lehrerverbandes. Und hat selten ein Blatt vor den Mund genommen.

Kraus (68) war Deutsch- und Sportlehrer und ab 1995 Schulleiter am Maximilian-von-Montgelas-Gymnasium im niederbayerischen Vilsbiburg. Er gilt als Verfechter einer konservativen Bildungspolitik.

Kraus hat in den 70er Jahren in Würzburg Lehramt und Psychologie studiert. Wir sprachen mit ihm am Rande der Bezirksversammlung des Bayerischen Philologenverbandes in Karlstadt (Lkr. Main-Spessart).

Frage: Herr Kraus, Ihr neues Buch trägt den Titel „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“. Ist das eine Bedienungsanleitung?

Josef Kraus: Nein, das Gegenteil. Es ist ein Weckruf, um der hohen Politik und auch der Bildungsforschung zu zeigen, was schief gelaufen ist und wo man umkehren muss.

Wo denn?

Kraus: Meine Beobachtung aus drei Jahrzehnten quer durch die Bundesländer ist, dass Leistungsprinzip und Anspruchsniveau gelitten haben. Unsere Schüler können weniger. Das gilt für diejenigen, die aus der Grundschule kommen – das gilt aber auch für die Schulabgänger. Weiterführende Schulen und Universitäten klagen darüber, dass Schüler bestimmte Dinge, gerade im Bereich der Kulturtechniken, nicht mehr können – also Defizite im Rechnen, Schreiben, Lesen.

Woran liegt das? Wollen sich Schüler heute weniger anstrengen oder wird zu wenig gefordert?

Kraus: Die Schule verlangt zu wenig – aber nicht aus eigenem Antrieb heraus, sondern weil sie über die Bildungspolitik zu mehr Anspruchslosigkeit verpflichtet worden ist.

Warum sollte das so sein?

Kraus: Weil die Politik schöne Bilanzen haben will. So werden in relativ kurzer Zeit Abiturquoten hoch- oder Durchfallerquoten runtergeschraubt. Das ist einfacher, als wirklich anspruchsvolle Bildung umzusetzen. Mit Manipulationen an Notenberechnungsformeln kann ich von heute auf morgen die Ergebnisse schönen.

Ist also ein Abitur heute nicht mehr so viel wert wie vor zehn oder 20 Jahren?

Kraus: Das befürchte ich. Deshalb plädiere ich auch für eine Unterscheidung zwischen Studierberechtigung und Studierbefähigung. Ersteres mag vorhanden sein. Aber die Tatsache, dass immer mehr Hochschulen Liftkurse für Studienanfänger machen, zeigt doch deren Defizite. Viele Professoren schlagen die Hände über dem Kopf zusammen, wenn sie Bachelor- oder Zulassungsarbeiten korrigieren – was die Orthografie oder das sprachliche Ausdrucksvermögen betrifft. Leider passen sich die Hochschulen dieser Niveaulosigkeit mittlerweile an. Im Ergebnis befürchte ich eine Amerikanisierung unseres Hochschulsystems.

Was meinen Sie damit?

Kraus: Eine schwach ausgeprägte oder unterdurchschnittliche Bildung für die breite Masse. Und für Eltern, die es sich leisten können, eine hochkarätige, aber sozial selektive Bildung ihrer Kinder – das sind aber vielleicht nur zehn Prozent.

Was wären die Folgen einer solchen Entwicklung?

Kraus: Eine soziale Spaltung. Wir haben ein Schulsystem, das zwar differenziert, das den Bildungserfolg aber nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängig macht. Schulbesuch in Deutschland bis zum Abitur ist kostenfrei.

Lässt sich bei steigender Anforderung der Erfolg dann nicht mit Nachhilfe „erkaufen“? Zumindest, für die, die es sich leisten können...

Kraus: Das ist weniger eine Sache des Geldbeutels als des elterlichen Erziehungsklimas. Wenn in den Elternhäusern kein Wert gelegt wird auf Kommunikation, auf Lesen, auf Sport, auf Museumsbesuche, auf Waldgänge, sondern die Kinder nur vor der Glotze oder irgendeinem Joystick geparkt werden – dann hat das nichts mit dem Geldbeutel der Eltern zu tun. Wir kriegen keine Bildungsoffensive hin ohne eine elterliche Erziehungsoffensive. Das Defizit bei den Eltern kann nicht durch noch mehr Verstaatlichung von Erziehung ausgeglichen werden.

Sie kritisieren aber auch die „Helikopter-Eltern“ oder – wie Sie provokant sagen – die „Kampfhubschrauber-Eltern“… Als anderes Extrem?

Kraus: Wenn wir die Elternschaft grob kategorisieren, dann gibt es etwa ein Sechstel der Eltern, die sich um gar nichts kümmern. Die sind natürlich das Hauptproblem, die erreichen Sie als Schule einfach nicht. Dann haben wir ein anderes Sechstel der Eltern, die sich um alles und noch mehr kümmern – das sind die „Helikopter-Eltern“. Dann bleiben aber noch zwei Drittel der Eltern übrig, die recht vernünftig und bodenständig sind. Die Verteilung ist aber regional und je nach sozialen Brennpunkten sehr unterschiedlich.

Aber welches Versagen findet in den Schulen statt, wenn Jugendliche nicht mehr ordentlich lesen und schreiben können? Was sind die pädagogischen Gründe?

Kraus: Hier ist die Schulpolitik verantwortlich, weil sie gefällig sein will. Denken Sie an all das Gerede: Schule darf nicht anstrengend sein, nicht stressig, muss Spaß machen, soll Lebensraum sein… Beispiel phonetische Schreibweise, das Schreiben nach Gehör: Das war eine Marotte von ein paar Ober-Pädagogen, weil es angeblich kindgemäß sei. Aber vom Falschen später umzulernen auf das Richtige, ist deutlich schwerer, als gleich von Anfang an das Richtige zu lernen. Die Politik trifft eine Mitschuld. Sie will auch gerne modern sein, statt zu sagen: Schule darf und muss auch anstrengend sein.

Nun sagen viele, das Gymnasium sei durch die Verkürzung auf acht Jahre anstrengender geworden. Sie selbst waren damals ein Gegner der Einführung. Sie müssten sich doch jetzt über die Rückkehr zum G9 freuen, oder?

Kraus: Das Schimpfen auf das G8 wegen einer Überforderung war in den ersten Jahren berechtigt. Die Stundentafel war voluminöser, es gab viel mehr Nachmittagsunterricht. Im Lauf der Nuller-Jahre wurde hier bis 2009 aber dramatisch abgebaut und inhaltlich abgespeckt. Die Anforderungen wurden gesenkt, das Gejammer aber ist geblieben. Und G8-Abiturienten sind ein Jahr weniger reif.

Kann die nun eingeführte flexible Form von G8/G9 funktionieren?

Kraus: Die Parallelität beider Varianten wird es nur an sehr großen Schulen in einer dichten Gymnasiallandschaft geben. Es werden sich, das ist meine Prognose, nicht mehr als zehn bis 15 Prozent der Eltern für das G8 entscheiden. Was mir an der neuen Konzeption des G9 nicht gefällt: Es scheint ein G8 light zu werden. Ich hätte mir gewünscht, dass wieder mehr Stunden und Inhalte in den Lehrplan gepackt werden. Es kommt aber nicht viel mehr dazu.

Die Idee bei der Einführung des G8 war auch, Abiturienten früher der Wirtschaft zuzuführen. Sie selbst kritisieren eine utilitaristische Bildung, die vorrangig nach dem wirtschaftlichen Nutzen fragt…

Kraus: Ich meine, dass eine breite Allgemeinbildung für die Persönlichkeitsbildung wichtig ist. Und diese sollte möglichst bis in die Abiturklassen hinaufstattfinden. Schüler sollen auch konkretes Wissen mitnehmen. Ich beobachte zum Beispiel einen historischen Analphabetismus. Viele junge Leute können heute mit Daten wie dem 13. August 1961, dem Beginn des Mauerbaus, oder dem 17. Juni 1953, dem Aufstand in der DDR, nichts mehr anfangen.

Aber ein derart breit angelegtes Bildungsverständnis ist doch mit Tests wie den Pisa-Studien kaum zu erfassen, oder?

Kraus: Das einzige Positive an Pisa war, dass über Bildung intensiv diskutiert wurde. Aber das war?s dann. Der größte Kollateralschaden von Pisa ist, dass Bildung viel zu sehr auf das Nützliche und auf das Messbare verengt wird.

Ziel deutscher Bildungspolitik in den vergangenen Jahren war unter anderem, mehr Schulabgänger an die Hochschulen zu bringen. Sie sehen das kritisch…

Kraus: Mein Vorschlag lautet seit langem: An den Informations- und Übertrittsabenden in der 3./4. Klasse sollte man den Eltern nicht nur präsentieren, was Mittel-, Realschule und Gymnasium bieten, sondern man sollte auch Vertreter der beruflichen Bildung und von den Kammern auftreten lassen. Da gibt es tolle Wege, nicht alle müssen studieren. Ansonsten gerät unser duales Ausbildungssystem unter die Räder.

Nach 30 Jahren an der Spitze des Deutschen Lehrerverbandes wollen sie nun eine Stiftung für Bildungspolitik gründen. Was soll sie bewirken?

Kraus: Ich möchte ein Sprachrohr schaffen, um diesen ganzen Fritzen von OECD und Bertelsmann etwas entgegenzusetzen – Expertisen, Meinungsumfragen, Fachtagungen und mehr. Die Idee stößt auf große Resonanz, aber im Moment fehlt es noch an Geldgebern.

 
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  • T. B.
    Spaß an der Schule hat heute vermutlich kaum noch ein Kind. Der Stress beginnt meist schon in der 4. Grundschulklasse, weil der "Bub" unbedingt auf`s Gymnasium muss. Da spielen sich Dramen ab, das glaubt kein Mensch. Kinder bekommen teilweise in der Grundschule Nachhilfeunterricht, damit sie auf`s Gymnasium wechseln können. Ich behaupte dass 30 - 40 % der Gymnasiasten dort nichts verloren haben. Aber das interessiert die Eltern herzlich wenig, Hauptsache das eigene Ego ist befiedigt, ob das Kind eine glückliche Kindheit verbringt, scheint egal zu sein. Aber man kann dann im Freundeskreis erzählen, ja, unser Bub geht ja auf`s Gymnasium, das Elend das sich dahinter verbirgt, davon wird natürlich nichts erzählt. Und wenn dann das Abitur mit 3, 5 endlich geschafft ist, dann brauchts erst einmal ein Auslandsjahr um sich dann hinterher in wenigstens drei Studiengängen zu "finden".
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  • R. W.
    Endlich mal einer, der das Kind beim Namen nennt und nicht nur bla, bla!
    Der deutsche Wohlstand gründet sich nun mal darauf, dass sich Deutsche immer etwas mehr angestrengt haben als alle anderen. Das ist auf Baustellen ebenso wie in der Schule!
    Und auch dass Bayern so gut da steht, hängt auch mit den gehobenen schulischen Anforderungen zusammen. Mehr Leistung - das wissen auch Sportler - erreicht man nur durch Training und wenn man noch eine Schippe drauf legt, eben dann wenn es schon weh tut!
    Stattdessen wird das Abitur geradezu verramscht! Über alle möglichen Umwege kann man studieren, mit der Folge, dass auch im hoch qualifizierten Bereich Deutschland seinen Vorsprung verliert! Durch unterqualifizierte Migration wird das noch verstärkt. Stattdessen will die Politik den Beweis erbringen, dass sie Recht hatte und senkt auch noch die Anforderungen!
    Leidtragende werden unsere Kinder und Enkel sein, denen ein deutlich niedrigeres Lebensniveau bevor steht!
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  • A. H.
    Guter Artikel "Lob"
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  • H. F.
    Leider werden wohl die standards demnächst durch unsere linksbunten politiker noch weiter abgesenkt werden, damit unsere "neubürger" sich leichter integrieren können.
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  • M. W.
    Alle machen Abitur auf Teufel komm raus, studieren Literatur, Kunstgeschichte oder Germanistik. Und am Ende fehlen die Handwerker. Letztere werden auch auf absehbare Zeit nicht durch Maschinen zu ersetzen sein. Zeitungsartikel dagegen werden schon heute teilweise von Robotern geschrieben.
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  • L. W.
    Beispiel phonetische Schreibweise, das Schreiben nach Gehör

    DA hat der gute Mann aber so was von Recht.

    Bis heute habe ich es nicht verstanden, dass Grundschulkinder, die womöglich auch nie ein Buch in die Hand nahmen, sich an die falsche Schreibweise gewöhnen durften.
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