
Ein schickes Rennrad hatte damals kein Mensch, an E-Bikes war noch lange nicht zu denken: Mit einem einfachen Drahtesel machte sich Hugo Lenssen wenige Monate nach Kriegsende auf den Weg von Mönchengladbach nach Kleinbardorf. Vier Tage brauchte er für die 370 Kilometer lange Reise ins unterfränkische Grabfeld. In Kleinbardorf sah er nicht nur seine Schwester Luise wieder. Der 90-Jährige lernte auch seine Frau Rosa kennen, die er heute vor genau 70 Jahren heiratete.
Vor allem Mütter mit ihren Kindern wurden während des Zweiten Weltkriegs wegen der dauernden Bombenangriffe auf Mönchengladbach evakuiert. So kam Hugo Lenssens Schwester nach Unterfranken. Lenssen selbst war in den letzten Kriegsmonaten noch Soldat gewesen. Nach seiner Heimkehr bat die Mutter ihren Sohn, doch mal nach Kleinbardorf zu radeln, um nach seiner Schwester zu sehen. Der junge Mann zögerte nicht lange. Mit leichtem Gepäck trat er die Tour an: „Zwischendurch konnte ich auf einen Kohlenzug aufspringen und ein Stück mitfahren.“
In Kleinbardorf fand Hugo Lenssen rasch Kontakt zur Dorfjugend. Man studierte im Tanzsaal der Dorfwirtschaft die ersten Tanzschritte ein: „Dafür erhielt der Tanzlehrer drei Pfund Butter.“ Gemeinsam wurde Holz für den großen Backofen gesammelt, der im Haus von Rosas Eltern stand. „Es war der größte Ofen in der ganzen Nachbarschaft“, erinnert sich Hugo Lenssen. Hier wurde nicht nur eigenes Brot gebacken: „Die Nachbarn brachten ihre Kuchenbleche herbei.“ Am Holzsammeln beteiligten sich oft eine ganze Schar Jugendlicher. Bei solch einer Sammelaktion kamen sich Rosa und Hugo näher.
Rosa war beileibe nicht das einzige Mädchen in Kleinbardorf, das die Blicke der Jungs auf sich zog. Allerdings war sie, erinnert sich Hugo Lenssen, ganz besonders hübsch. Es dauerte nicht einmal drei Monate, dann war für den damals 20-Jährigen klar: Dieses Mädel sollte seine Frau werden. Die Eheschließung war nicht ganz einfach, denn Hugo Lenssen war evangelisch, seine gleichaltrige Verlobte katholisch. Geheiratet werden sollte in der katholischen Kirche von Kleinbardorf.
„Für gemischte Ehen brauchte man damals noch die Genehmigung des Bischofs“, sagt Domkapitular Jürgen Lenssen, Kunstreferent der Diözese und Sohn des Gnadenhochzeitspaars.
Am 15. November 1946 wurde standesamtlich, am Tag darauf kirchlich geheiratet. Die Zugfahrt der Mönchengladbacher Verwandten nach Kleinbardorf hat Hugo Lenssen als recht abenteuerlich in Erinnerung: „Der Zug war überfüllt, Mutter und die anderen mussten durchs Zugfenster einsteigen.“
Die Fahrt endete im Nachbardorf Kleineibstadt, wo alle mit Pferd und Kutsche zur Feier abgeholt wurden. Das als Hochzeitsbraten aufgetischte Schwein war zuvor bei verdunkeltem Fenster im Haus von Rosas Eltern schwarz geschlachtet worden.
Noch bevor er als Soldat eingezogen wurde, hatte Hugo Lenssen, gelernter Stoffmacher, seine Meisterprüfung abgelegt. Eigentlich wollte er nach der Hochzeit auf die Mönchengladbacher Textiltechnikschule gehen. Doch die Versorgungslage war in seiner Heimatstadt noch extrem schlecht. So zog das junge Paar nach der Geburt ihres Sohnes erst einmal nach Bad Neustadt an der Saale, wo Hugo Lenssen einen Job bei Siemens bekam.
Erst 1951 ging man zurück ins Ruhrgebiet, wo sich Hugo Lenssen endlich zum Textilingenieur mausern konnte. Noch immer war die Lebenssituation schwierig, die Familie litt unter räumlicher Enge. „Wir hatten zunächst nur ein, später zwei Zimmer“, erinnert sich Jürgen Lenssen. Erst als er in der zweiten Klasse war, erhielten die drei eine eigene Wohnung.
Zehn Jahre nach der Rückkehr nach Mönchengladbach wollte Hugo Lenssen eigentlich in die Schweiz gehen. Eine interessante Arbeitsstelle wartete auf ihn, auch waren schon Wohnung und Schulplatz organisiert. Doch der Mauerbau und die Angst vor einem neuerlichen Krieg machten die Pläne zunichte: Die Schweizer wollten keine Ausländer im Land, sie zogen ihr Angebot zurück.
Statt in die Schweiz, zog die Familie nach Geesthacht bei Hamburg. Dass heute alle drei in Würzburg leben, haben sie Jürgen Lenssen zu verdanken, der sich nach dem Abitur entschied, in Würzburg Theologie zu studieren.
70 Jahre in unverbrüchlicher Gemeinschaft durch dick und dünn zu gehen – wie schafft man das bloß? „Man muss immer miteinander über alles reden“, sagt Hugo Lenssen. Niemals dürfe ein böses Wort einfach stehen gelassen werden. Nach dieser Devise lebt der 90-Jährige bis heute.
Dass er den Gnadenhochzeitstag erleben würde, hätte er nie gedacht, gibt Lenssen zu. Mag sein, dass er das der Dorfjugend in Kleinbardorf zu verdanken hat. Als das Hochzeitsaufgebot ausgehängt wurde, stapelten die Jugendlichen dicke Holzscheite unter der Vitrine. Auf dass die Ehe „ewig“ halte.