
Was treibt einen 17-jährigen Flüchtling dazu, im Namen des IS mit einer Axt und einem Messer ein Blutbad in einem Regionalzug in Würzburg anzurichten? Wie schnell hat er sich radikalisiert? Hätte man erkennen können, was in ihm vorgeht? Florian Endres leitet die Beratungsstelle Radikalisierung im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Nürnberg. Dort nehmen fünf Mitarbeiter an der Hotline Fälle auf. Bundesweit sind 40 geschulte Sozialpädagogen, Politikwissenschaftler, Islamwissenschaftler und Psychologen im Einsatz und führen Gespräche – auf Deutsch, Türkisch, Arabisch, oder auch Russisch.
Florian Endres: Die These der Blitz- oder Turboradikalisierung ist sehr umstritten. Generell stellen wir aber fest, dass Radikalisierungsprozesse immer schneller vonstatten gehen – bei Jungs wie auch bei Mädchen. Viele beschäftigen sich überhaupt nicht mehr mit dem Islam als Religion, sondern konvertieren sofort in den Salafismus. Es gibt Fälle, da beschließen Jugendliche innerhalb weniger Wochen nach der Konversion: „Ich will nach Syrien oder in den Irak und dort für den IS kämpfen.
“Dieses Phänomen nimmt zu, das ist auch die Erfahrung von Sicherheitsbehörden. Bei Einzelattentätern, die keinen festen terroristischen Strukturen angehören und die sich über Kleinstgruppen oder über den Konsum islamistischer Videos im Internet radikalisieren, spricht man in der Fachwelt von „einsamen Wölfen“. In solchen Konstellationen gibt es durchaus Parallelen zu Amokläufen. Bei dem Fall des Axt-Attentats in Würzburg muss man sich jetzt genau die Situation anschauen, in der sich der Junge befunden hat.
Endres: Der Unterschied liegt in der Ideologie. Während bei einem Amoklauf meist eine persönlich empfundene Kränkung von Mitschülern, Mobbing oder Konflikte mit Lehrern vorangehen und der Gewaltakt eine persönliche Rache für empfundene Diskriminierung und Unterdrückung ist, kommt beim Attentat noch der politisch-motivierte Kontext dazu. Die Ideologie liefert hier die Rechtfertigung. Sie ist das Ventil. Das nutzen al-Kaida oder der IS gnadenlos aus. Sie sagen: „Schlag los, du brauchst nicht zu uns zu kommen. Pack dir ein Messer, steig in ein Auto.“ Diese Botschaft wird seit Mitte der 2000er Jahre von dschihadistischen Organisationen propagiert. Auch anfällig dafür können teils auch psychisch labile Persönlichkeiten sein.
Endres: Der große Clou des IS ist, dass seine Propaganda mittlerweile eine neue Dimension erreicht hat. Wenn man sich nur einmal anschaut, wie viele dem IS zurechenbare Twitter– und Telegram-Accounts vorhanden sind. Es ist ein riesiges Netzwerk, das es für Außenstehende leicht macht, sich damit zu beschäftigen.
Früher hat al-Kaida vor allem über relativ elitäre Internetforen kommuniziert, die nur ein geschützter User-Kreis online betreten konnte. Mitglieder mussten sich vorher verifizieren. Der IS geht ganz anders vor, frei nach der Devise: „Ich nutze alle Wege, die mir im Netz zur Verfügung stehen, um mein Klientel anzusprechen. Es ist viel leichter für Sympathisanten, in Kontakt mit der IS-Propaganda zu kommen. Sie agieren offen über einschlägige Social-Media-Plattformen. Es ist ein Wahnsinn, wie schnell eine Meldung des IS in der Welt ist. Für Sicherheitsbehörden ist es enorm schwierig, das Ganze im Blick zu haben.
Hätte man die Radikalisierung des 17-Jährigen erkennen können oder ist das unmöglich?
Endres: Es ist schwierig. Wir werden nahezu täglich mit der Frage konfrontiert. Radikalisierungsprozesse verlaufen immer individuell. Anzeichen einer Radikalisierung sind, wenn sich beispielsweise der Internetkonsum oder die Religiosität des Jugendlichen drastisch verändern. Ein Beispiel: Wenn ein Jugendlicher, der vorher nie sehr religiös war, seine Religion plötzlich als das Non plus Ultra darstellt.
Auch wenn sich sein Surfverhalten verändert, dann sollten Eltern oder Betreuer schnell abklären: Ist das eine neu entdeckte Religiosität oder schon Radikalisierung? Brüche in der Biografie können dann der Auslöser für einen Radikalisierungsprozess sein: der Tod eines Angehörigen oder Freundes, die Trennung der Eltern, schulische Probleme oder zerbrochene Beziehungen. Die salafistische Ideologie ist einfach und schnell: „Wir bieten dir jetzt den Ausweg aus deiner Situation.“
- Wir halten Sie in unserem Live-Blog über die aktuellen Entwicklungen des Attentats auf dem Laufenden
Kann man einen bereits radikalisierten Jugendlichen wieder auf den Boden zurückholen?
Endres: Durchaus. Je früher wir von der Radikalisierung wissen, desto leichter ist es, an das Umfeld des Jugendlichen heranzukommen. Meist rufen Familienangehörige, Lehrer, Eltern oder Betreuer bei uns an. Dann schicken wir jemanden aus unserem Netzwerk vorbei. Wir schauen uns die Biografie des Jungen oder des Mädchens an und versuchen, Akteure zu finden, die einen positiven Einfluss auf ihn haben.
In einigen Fällen sprechen unsere Berater mit dem Jugendlichen über sein Religionsverständnis. Meist kennen sich die Jungs nur äußerst rudimentär mit dem Islam aus. Es sind zumeist religiöse „Analphabeten“. Oft spielen andere, persönliche Gründe eine Rolle im Radikalisierungsprozess. Die salafistische/dschihadistische Ideologie wird nur als Begründung genutzt. Für diese Gespräche haben wir Islamwissenschaftler und muslimische Pädagogen an der Hand. Viel wichtiger ist aber die klassische sozialpädagogische Arbeit, ein Familiencoaching und das persönliche Umfeld der Jugendlichen zu beleuchten. Dies kann den Radikalisierungsprozess stoppen.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit muslimischen Verbänden?
Endres: Unsere bundesweiten Netzwerkpartner, wie das Violence Prevention Network in Bayern, beziehen in die konkrete Fallarbeit durchaus Akteure der muslimischen Community vor Ort problemlos ein.
Auf welchen Ebenen spielt sich die Radikalisierung ab?
Endres: Es gibt drei Ebenen bei der Radikalisierung: die Person, das Umfeld und die Ideologie. Fast immer geht es um die Biografie des einzelnen Jugendlichen: Warum fühlt er sich schlecht? Was ist passiert? Dann kommt das Umfeld: Familie, Freunde, Beruf. Und des Weiteren spielt das extremistische Umfeld bei der Radikalisierung eine Rolle. Hier greifen dann entsprechende gruppendynamische Prozesse. Und als weiterer Faktor die Ideologie.
Endres: Es ist noch zu früh, über den Fall in Würzburg etwas zu sagen. Bei dschihadistisch motivierten Selbstmordanschlägen beispielsweise sind Menschen in ihrer Ideologisierung so weit vorangeschritten, dass sie den Märtyrerweg völlig verinnerlicht haben.
Ist es prinzipiell möglich eine bereits begonnene Radikalisierung zu stoppen beziehungsweise die Radikalisierung rückgängig zu machen?
Endres: Wir haben es schon geschafft, Jugendliche zu de-radikalisieren, die wieder ein ganz normales Leben führen, obwohl sie in Syrien vom IS beeinflusst wurden. Wichtig ist, ein großes Netzwerk aus Familie und Freunden um sie zu spinnen und ihr kritisches Denken über die eigene Situation zu aktivieren. Der Pfad der Radikalisierung geht nicht steil nach oben. Meist fragen sich die Jugendlichen selbst immer wieder: „Bin ich noch auf dem richtigen Weg?“
Auch in Fällen einer starken Radikalisierung, die zum Beispiel in einer Ausreise nach Syrien oder in den Irak mündet, kann noch Zweifel entstehen. Aus Fällen wissen wir, dass wenn ihnen in Syrien die ersten Kugeln um die Ohren fliegen oder ein mutmaßlicher Spion vor ihren Augen enthauptet wird, einige denken: „Ich bin hier im falschen Film.“
Was also tun?
Endres: Wenn man erkennt, dass radikalisierende Jugendliche zweifeln, dann muss man sofort versuchen, an sie heranzukommen. Dafür müssen die Angehörigen und die Berater im Gespräch mit dem Jugendlichen bleiben und fragen: „Was bewegt ihn? Was sucht er bei einem islamistischen Prediger?“ In Kontakt bleiben, Interesse zeigen, zum Nachdenken anregen – das ist die Aufgabe. Wenn sie erst einmal in dem Prozess des Nachdenkens sind, dann kann man mit der Deradikalisierung gut ansetzen. Dann können die Berater Gegenargumente anbringen und eine emotionale Bindung bilden und die Beziehung zu ihrem alten Umfeld wiederaufbauen, die sie meist abgebrochen hatten.
Sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge das ideale „Werkzeug“ des IS?
Endres: Seit etwa einem Jahr stellen wir fest, dass sich einige unbegleitete minderjährige Flüchtlinge radikalisieren und in die salafistische Szene abrutschen. Weil ihnen das gesamte soziale und familiäre Umfeld fehlt, sind sie durchaus gefährdet. Bundesweit verzeichnen wir an der Beratungsstelle seit 2012 1200 Fälle von Radikalisierung: darunter Konvertiten, Menschen, die in Deutschland geboren wurden und aus der Mitte der Gesellschaft stammen.In rund 70 Fällen ging es um die Radikalisierung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge.
Sie sprechen von religiösen Analphabeten. Welche Rolle spielt der Islam ihrer Meinung nach für die Radikalisierung?
Endres: Bei der Radikalisierung spielt die Ideologie meist eine untergeordnete Rolle. Radikalisierte Jugendliche haben in ihrem familiären Umfeld meist wenig über Religion erfahren. Sie bringen wenig religiöses Wissen mit und sind daher nicht in der Lage, salafistische Thesen kritisch zu hinterfragen. Meist befinden sich die Jugendlichen in einer persönlichen Krise, da kommt das Angebot salafistischer Prediger gerade recht. Für unsere Arbeit spielt der Islam aber eine Rolle, weil man die Ideologie des IS nur durchbrechen kann, wenn man ein gewisses Islamverständnis mitbringt und mit den Jugendlichen auch auf der ideologischen Ebene diskutieren kann.
Wie viele potenziell radikalisierte Jugendliche haben Sie über Ihre Hotline erreicht und wer meldet sich bei Ihnen?
Endres: Die meisten Anrufe kommen aus dem engsten familiären Umfeld, von Ehrenamtlichen aber auch vor allem von Personen, die sich professionell mit den Jugendlichen beschäftigen, von Lehrern, Jugendamtsmitarbeitern und Sozialpädagogen. Uns erreichen – ähnlich wie 2015 – etwa acht bis zehn Beratungskonstellationen pro Woche, in denen wir unsere Netzwerkpartner vor Ort in die Fallbearbeitung schicken. Nach einem Anschlag, wenn das Thema in den Medien diskutiert wird, wie gerade jetzt, steigen die Anruferzahlen kurzfristig sehr stark.
Ähnlich war das nach dem Anschlag auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo oder nach den Attentaten in Brüssel. Dann klingelt das Telefon permanent. Seit 2012 haben wir auf unserer Hotline mehr als 2500 Anrufe entgegengenommen. Manche Anrufe sind auch nur Beratungs- und Informationsgespräche oder Anfragen für Workshops an Schulen. Aus diesen Anrufern haben wir knapp 1200 Beratungsfälle herausgezogen. Als zentrale Anlaufstelle kooperiert mit uns ein zivilgesellschaftliches Netzwerk mit Beratungsstellen vor Ort, die den persönlichen Kontakt zu den Jugendlichen, den Eltern oder Betreuern herstellen.
Der Trend zur Radikalisierung ist nach wie vor hoch. In 25 bis 30 Fällen sind Radikalisierungsprozesse im Gange oder erste Anzeichen werden wahrgenommen, da wird das Netzwerk aktiviert.
Endres: Mein Rat ist, miteinander zu reden, offene Fragen über die Religion zu stellen, ohne gleich Stereotype zu bedienen. Jugendliche wollen häufig drüber reden. Sie wollen wahrgenommen werden. Da kriegt man relativ schnell mit, wie sie zum Islam stehen. Das ist der zentrale Punkt. Den Rat würde ich auch den Eltern geben. Und falls man Tendenzen einer Radikalisierung feststellt, sollten sich Pflegeeltern oder Betreuer sofort an unsere Hotline wenden. Hier erhalten Sie professionelle Hilfe.
Florian Endres ist Referent im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Nürnberg. Der gebürtige Schweinfurter hat Politikwissenschaft, Kriminologie und Geschichte in Würzburg studiert, anschließend mehrere Projekte für das Landeskriminalamt Hessen zu islamistischem Terrorismus und Radikalisierungsprozessen betreut. Seit 2012 ist der 34-Jährige Leiter der Beratungsstelle Radikalisierung beim BAMF.
Anzeichen einer Radikalisierung
Die Beratungsstelle Radikalisierung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Nürnberg ist seit 2012 die erste Anlaufstelle, wenn Eltern, Lehrer oder Freunde sich sorgen, jemand in ihrem Umfeld könnte sich einer radikal islamistischen Gruppe zuwenden. Bundesweit kooperiert sie mit acht Beratungsstellen.
Anzeichen einer Radikalisierung können laut Florian Endres sein:
- Wenn ein Jugendlicher, der vorher nie sehr religiös war, seine Religion plötzlich als das Non plus Ultra darstellt.
- Wenn er sich über Muslime, die seine Einstellungen nicht teilen, abfällig äußert.
- Wenn er versucht, andere zu missionieren.
- Wenn er plötzlich Wertvorstellungen vertritt, die unseren freiheitlich demokratischen Werten widersprechen.
- Wenn er sich über so genannte „Ungläubige“ äußert.
- Wenn er IS-Propaganda-Videos im Internet konsumiert.
- Wenn sich sein Surfverhalten verändert.
Kontakt: Die Beratungsstelle Radikalisierung ist Montag bis Freitag von 9 bis 15 Uhr erreichbar unter Tel. 0911-943 43 43 oder per E-Mail: beratung@bamf.bund.de