Interesse, Neugier, Idealismus und der Ausgleich zum Studium haben den Theologen und Betriebswirt Michael Lindner-Jung vor über 30 Jahren zur Bahnhofsmission geführt. Er wollte als Christ „praktisch“ tätig sein, ohne zu missionieren. Inzwischen leitet er seit 25 Jahren die Würzburger Bahnhofsmission, die in diesem Jahr 120 Jahre alt wird. Sie ist damit eine der ältesten überhaupt – bundesweit. Die Bahnhofsmission hat die einzige Türe in Würzburg, die sieben Tage in der Woche von 0 bis 24 Uhr für Menschen in Not offensteht. Immer. Dass das möglich ist, dafür sorgen ausgebildete Ehrenamtliche, die mit 130 Wochenstunden die vier Fachkräfte und zwölf nebenberuflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützen. Ein Gespräch mit dem 59-jährigen Einrichtungsleiter über einst und jetzt.
Samariter des Bahnsteigs, Raststätte der Nächstenliebe, Gastzimmer der Kirche, öffentliche Suppenküche – welches Etikett gefällt Ihnen denn für die Bahnhofsmission am besten? Welches passt noch?
Michael Lindner-Jung: Muss ich mich auf eines davon festlegen? Mein Bild von Bahnhofsmission hat sich über die Jahre sehr verändert. Als Theologen erzeugte für mich von Anfang an das Wort Mission eine Reibung. Weil Mission manchmal ja auch heißt: jemanden überzeugen, zu etwas bringen wollen, was man selbst gut findet. Und das passt nicht zur Bahnhofsmission. Eine andere Interpretation von Mission ist: geschickt sein an einen Ort, wo Menschen dich brauchen können, wo ich womöglich noch nie war. Als ich vor über 30 Jahre hierher kam, war das für mich ein völlig neues Umfeld. Mit einem Wort ist nicht zu beschreiben, was ich mit Bahnhofsmission verbinde. Es ist ein Ort, wo Menschen Zuflucht, Ruhe und Zuversicht finden. Ein Ort, wo sie willkommen sind und sein dürfen, so wie sie sind. Und vielleicht bestärkt werden, dass sie sind. Ein Ort nahe den Menschen, die besonderer Hilfe bedürfen. Im Umfeld Bahnhof begegnen wir besonders häufig Menschen in prekären, belasteten Lebenssituationen. Dort treffen wir auf Not, unsichtbare und offensichtliche, wie an keinem anderen öffentlichen Ort.
Am größten ist die Not ausgerechnet am Bahnhof?
Lindner-Jung: Es ist nicht nur die Not so groß am Bahnhof, es gibt auch viele wunderbare Momente, Erlebnisse am Bahnhof. Aber natürlich ist ein Bahnhof ein besonderer Ort, weil von überall her alle nur denkbaren Menschen mit allen möglichen Situationen ankommen können. Dort ist etwas verwirklicht, was man anderswo selten so findet: Du bist mitten unter Menschen. Auch jemand, der sich wenig beachtet, der sich als Außenseiter fühlt. Jemand, der anonym bleiben will, weil er vielleicht kein besonders gutes Bild von sich hat. Am Bahnhof hat er das Gefühl, angebunden zu sein. Das ist das Entscheidende. Hier ist mehr Gemeinschaft als anderswo? Gefühlt. Faktisch oft nicht. Und natürlich sind die Menschen am Bahnhof alles andere als eine homogene Gruppe, die sich gesucht und gefunden hat. Es ist eine zufällige Gruppe. Aber das Gefühl, dass man mittendrin ist, irgendwie dazugehört, hat man hier.
Für die meisten ist Bahnhof nur Durchgangsstation. Ankommen, weiter fahren. Was war der Grund, dass vor 125 Jahren Bahnhofsmissionen gegründet wurden. Und vor 120 Jahren in Würzburg?
Lindner-Jung: 1894 entstand die allererste in Berlin, am Ostbahnhof. Die Gründe waren ähnlich wie in Würzburg. Menschen vom Land suchen anderswo nach Einnahmen und Erwerbsquellen. In den Städten brauchen neu entstandene Fabriken Arbeitskräfte. So kommen vor gut 120 Jahren auch junge Frauen in die Stadt, ohne einen Plan, ohne eine klare Vorstellung, was sie dort erwartet. Und oft auch ohne Vorstellungen von einer Stadt. Sie werden dort nicht selten schon erwartet – häufig von Leuten, die in Arbeitsverhältnisse vermitteln, von denen man nicht leben kann. Im schlimmsten Fall von Zuhältern. Spätestens da haben aufmerksame Frauen entschieden, dem nicht länger zuzuschauen. In Würzburg waren das 1898 der Katholische Frauenbund und Mädchenschutzverein und 1899 die Freundinnen junger Mädchen. Freiwillig engagierte Frauen sind daraufhin regelmäßig an die Bahnsteige gegangen, haben arbeitssuchende Frauen in Empfang genommen und auch über längere Zeit in entscheidenden persönlichen Belangen unterstützt. Es ging um Grundbedürfnisse von Menschen, die Gefahr laufen, unter die Räder zu kommen.
Das ist etwas Anderes als Mobilitätshilfe, die viele ja hauptsächlich mit Bahnhofsmission verbinden.
Lindner-Jung: Mobilitätshilfen waren natürlich immer Bestandteil unseres Hilfeangebots, oft aber in einem viel weiteren Sinne als jemanden von einem Zug zum anderen Zug zu bringen. Da ging es in den 50er Jahren zum Beispiel um Reisebegleitung von Kindern zum Erholungsurlaub an die Nordsee, in den 60er Jahren um reiseberechtigte Rentner aus der Ostzone, in allen Jahrzehnten immer wieder um Flüchtlinge. Und im Sinne der Teilhabe gehören Mobilitätshilfen für Menschen, die nur unter erschwerten Bedingungen reisen können, an der Verkehrsstation Bahnhof einfach dazu.
Inzwischen gibt es hier ja auch Aufzüge und irgendwann ist der Bahnhof vielleicht tatsächlich barrierefrei. Müsste die Bahnhofsmission nicht irgendwann den 120 Jahren den Eindruck bekommen haben, überflüssig zu werden?
Lindner-Jung: In den über 30 Jahren, in denen ich hier bin, kam dieses Gefühl nie auf. Natürlich kann man sich überlegen: Die Klienten – wir nennen sie Gäste und Besucher - , die zu uns kommen, hätten auch woanders Anlaufstellen, andere Stellen wären eventuell zuständig. Frauenhäuser, die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, Krisendienst – hallo, warum braucht es dann die Bahnhofsmission? Ist das nicht eine Doppelbetreuung? Die Erfahrung zeigt: Viele unserer Besucher sind nicht in der Lage, höherschwellige, aufwendigere Angebote anzunehmen. Einen Termin haben, verbindlich sein, mich offenlegen, kontinuierlich mitarbeiten – das kann nicht jeder. Und für viele gibt es auch keine Zuständigkeiten. Wir erleben immer wieder neue Situationen, auf die sich niemand eingestellt hat . . .
Zum Beispiel?
Lindner-Jung: Geflüchtete, die in überraschend großer Zahl ankommen. Oder die Maueröffnung 1989. Vorher gab es das Thema „wohnungslose Frauen“ so gut wie nicht. Plötzlich standen – wie zu Beginn der Bahnhofsmission – junge Frauen im Bemühen um eine Existenz in Westdeutschland ohne alles da, hofften auf das gelobte Land und mussten manch schlimme Kompromisse eingehen, um sich überhaupt über Wasser zu halten. Plötzlich war die Wohnungslosigkeit von Frauen mit allen Gefahren und Gefährdungen ein großes Thema. Oder Mitte der 90er Jahre, als in rasend ansteigendem Tempo viele junge Erwachsene und auch Jugendliche auf der Straße lebten. Die Jugendhilfe war darauf nicht vorbereitet. Oder die gesundheitliche Versorgung von Menschen – das Anrecht auf eine Krankenkasse gibt es noch nicht so lange. Unser soziales Netz hat Lücken und oft nicht das entsprechende Angebot. Da ist der Bahnhof, die Bahnhofsmission die nächstliegende Anlaufstelle, weil mich irgendein Bus, irgendein Zug dorthin bringt und ich viele von meinesgleichen antreffe.
Bei Ihnen darf man anonym bleiben?
Lindner-Jung: Klar, wenn man das möchte. Für Hilfe gibt es kaum Schwellen, keine langen Wartezeiten. Wir haben 24 Stunden geöffnet. Das ist der entscheidende Schlüssel unserer Unterstützung im Unterschied zu vielen anderen Einrichtungen.
Fragen Sie, warum jemand hier ist?
Lindner-Jung: Ja, aber nicht automatisch. Jeder darf erst einmal da sein. Und muss nichts liefern. Vieles erfährt man zufällig, vieles passiert zwischen Tür und Angel. Bei uns gibt es Tee und Brötchen, aber nicht nur als Selbstzweck. Sondern als Anknüpfungspunkt für einen Kontakt und gegebenenfalls weitergehende Hilfen. Wenn jemand öfters kommt, versuchen wir, eine Brücke zu schlagen. Hier muss man nicht vorsortieren: Mit welchem Problem kann ich zu welcher Einrichtung? Unsere Zielgruppe ist nicht begrenzt, das macht es einfacher. Der Mensch kommt zuerst. Nicht das Problem.
Wie oft, wie lange sind Menschen hier?
Lindner-Jung: Sehr unterschiedlich. Es gibt Stammgäste, die nirgendwo sonst einen geschützten Raum haben. Und es kommen Menschen im Vorübergehen mit einer Frage oder einem ganz bestimmten Anliegen. In der Regel besuchen uns mit mehr als einem Problem Menschen, die auch innerlich aufgerichtet werden müssen.
Wie haben sich die Probleme verschoben?
Lindner-Jung: Was stark zugenommen hat und sicher inzwischen ein Viertel der Gäste betrifft: psychische Belastungen. Das ist die Situation, die uns am meisten fordert. Aber auch Menschen, die anders empfinden, nicht irr, aber ein bisschen verrückt sind, haben bei uns einen Platz.
Sie nennen die Bahnhofsmission einen Seismografen gesellschaftlicher Entwicklungen. Was zeichnet sich derzeit ab? Was „messen“ Sie?
Lindner-Jung: Die Frage, die mich am meisten beschäftigt, auch berührt: Wie schaffen wir es gemeinsam, dass scheinbar andere Menschen, die nicht dem Mainstream angehören, in unserer Gesellschaft einen Platz finden und Bedeutung erhalten? Ganz gleich, ob es um Menschen mit Erkrankungen oder anderen Wahrnehmungen, Menschen in Armut, weniger leistungsfähig, Menschen mit Migrationshintergrund geht – bleiben wir als Gesellschaft beieinander? Oder sehen wir das Andere, den Anderen zuerst als Gefährdung?
- Fotoreportage: Mission Possible
Das Verhältnis zur Deutschen Bahn . . .
Lindner-Jung: Ist sehr gut. Und war schon mal anders. Das hängt auch mit den recht unterschiedlichen Philosophien von Bahnhöfen und Bahn zusammen. Früher war die Bahn ein Staatsunternehmen, eine Behörde. Dann kam der große Schnitt. Als die Bahn privatisiert ein marktwirtschaftlich orientiertes Unternehmen wurde, gab es Verwerfungen. Bahnhöfe sollten umsatzstarke Geschäftszentren werden, sicher und clean. Um die Jahrtausendwende wurde darum gestritten, ob der Bahnhof ein Ort sein darf, an dem soziale Nöte erkennbar sein dürfen. Das hat sich völlig geändert. Der Vorstand der Deutschen Bahn sagt es deutlich: Bahnhöfe müssen offen sein für alle Menschen. Da hat Bahnhofsmission einen Platz. Als Kooperationspartner werden wir sehr geschätzt und erfahren auf allen Ebenen große Unterstützung. Ebenfalls erwähnenswert ist mit Blick auf die Pächter des Bahnhofs: Wir bekommen täglich Essen, Brötchen von den Läden hier am Bahnhof. Früher wurden unsere Besucher schon mal als Bedrohung für gute Geschäfte gesehen. Jetzt ist es ein Miteinander geworden – das ist so wichtig, das ist einfach Klasse!
Apropos. Den „historischen“ Schwarztee mit Zitrone – gibt’s den noch?
Lindner-Jung: Ja! Legendär. Inzwischen haben wir zwar durch Tee-Spenden auch ein paar mehr Sorten. Aber den Schwarztee mit Zucker und Zitrone gibt es noch. Fünf Liter kochendes Wasser, zwei gehäufte Esslöffel Schwarztee, 100 Gramm Zucker und den Saft von drei Zitronen. „Die“ Marke. Das ist der Geschmack der Bahnhofsmission.