Ich war erst vor wenigen Tagen von der Fußball-Europameisterschaft in Frankreich zurückgekehrt. Es war ein besonderes Turnier gewesen. Nach dem furchtbaren Attentat in Paris am 13. November 2015, war eine gewisse Angst nicht zu leugnen gewesen. Damals waren bei islamistischen Anschlägen auf das Stade de France, in dem die französische Nationalelf gerade gegen den damals noch amtierenden Weltmeister Deutschland spielte, sowie auf den Konzertsaal Bataclan 130 Menschen getötet und fast 700 verletzt worden.
Seitdem stand der Fußball im Visier, und das war bei dieser EM deutlich zu spüren. An den Zugängen zu den Pressezentren, den Trainingsplätzen, den Stadien wurden wir Journalisten gefilzt wie nie zuvor. Bewaffnete Polizisten prägten das Bild in den Städten, in den Pariser U-Bahnen waren sie ständige Begleiter.
Vor dem Finale durchkämmte das Militär das Medienzentrum im Stade de France mit Spürhunden. Es war ein beklemmendes Gefühl. Doch es passierte nichts. Kein Anschlag. Nur Fußball. Paris erwachte nach dem gegen Portugal verlorenen Finale mit einem Kater. Ich schrieb in meinem Hotel die letzten Geschichten, dann setzte ich mich ins Auto und fuhr zurück nach Hause. Irgendwie war ich auch erleichtert, dass es vorbei war. Es war Montag, der 11. Juli 2016. Noch eine Woche.
Der Tag war beherrscht worden von den Schlagzeilen der Zeit: Putsch in der Türkei, Staatsdoping in Russland
Der 18. Juli war ein warmer Sommertag. Er war beherrscht worden von den Schlagzeilen der Zeit. Der Putschversuch in der Türkei schlug weiter Wellen, Berichte über russisches Staatsdoping tauchten auf. Die aktuelle Ausgabe der Main-Post war fertig. Nach dem Feierabend war ich früher zu Bett gegangen als sonst, ich muss gegen 22 Uhr eingeschlafen sein. Plötzlich wurde ich wach. Es war nicht der Wecker. Es war meine Frau. Sie hatte im Fernsehen die Nachricht gesehen von einem möglichen Attentat in einem Zug bei Würzburg, dazu hatte mein Handy ständig vibriert.
Pflichtschuldig weckte sie mich. Ich checkte die Lage am Smartphone und telefonierte mit Kollegen in der Redaktion, die am Würzburger Heuchelhof Spätdienst hatten. Da die Nachrichtenlage noch dünn war, hörte ich auf mein Gefühl. Ich entschied mich, nach Würzburg zum Hauptbahnhof zu fahren. Wenn es ein Anschlag in einem Zug bei Würzburg gewesen war, musste es dort Informationen geben.
Ich parkte am Hochhaus an den Bussteigen und lief zum Bahnhof. Die Halle war nahezu menschenleer. Aber Polizisten waren vor Ort. Ich sprach mit einem der Beamten. Er berichtete von ein paar Verspätungen, aber keinen nennenswerten Vorkommnissen. Über einen möglichen Anschlag konnte oder durfte er mir nichts sagen – aber er gab mir einen Tipp: In der s.Oliver-Arena sei ein Lagezentrum eingerichtet worden.
Schon beim Einbiegen in die Stettiner Straße waren die Blaulichter der zahllosen Rettungsfahrzeuge zu sehen
Ich setzte mich ins Auto und fuhr Richtung Sanderau. Zwischenzeitlich telefonierte ich wieder mit der Redaktion. Kollege Manfred Schweidler, ein erfahrener Polizeireporter, hatte seinen Feierabend auch beendet und war zurück in die Redaktion gefahren, um die Berichterstattung zu koordinieren.
Bereits als ich in die Stettiner Straße einbog, erhellten die Blaulichter die Nacht. Zahllose Polizei- und Rettungswagen säumten die Straße. Aufgrund meines Presseausweises wurde ich durch die Absperrung auf den Parkplatz vor der s.Oliver-Arena gelassen. Es war ein mächtiges, aber irgendwie doch seltsam geordnetes Durcheinander. Ich traf Christina Gold, die beim Hilfsdienst der Malteser für Pressearbeit zuständig ist.
Noch in der Nacht des Attentats gingen wir mit einem Facebook-Video live. Im Gespräch beschreibt Christina Gold vom Malteser Hilfsdienst in Würzburg die Situation vor Ort. Das Video erzielte eine große Resonanz und wurde 278.724 Personen angezeigt. (Video: Achim Muth)
Langsam sickerten Informationen durch: Es war tatsächlich ein Attentat in einem Regionalexpress. Ein junger Flüchtling habe mit einer Axt mehrere Menschen verletzt, hier - in und um die Halle - war das Lagezentrum der Rettungskräfte eingerichtet worden. In der Arena wurden die Menschen medizinisch und psychologisch versorgt und betreut, die die Tat im Zug miterlebt hatten: Auch sie waren Opfer.
Sie bekamen Decken, Getränke – und vor allem Zuspruch und Trost. Später in der Nacht wurde von den Hilfsdiensten auch eine mobile Küche vor der Halle aufgebaut und Helfer wie Opfer mit einer warmen Mahlzeit versorgt. Es waren intensive Momente. Die Zugreisenden, die hier ankamen, wirkten gezeichnet. Ich entschied mich, niemanden anzusprechen, auch wenn sie nur wenige Meter an mir vorbeigingen. Später trafen auch erste Angehöre ein, die ihre Lieben abholten. Viele hatten Tränen in den Augen. Es waren bewegende Szenen.
Ich traf vor der Halle zufällig Martin Falger aus Kürnach (Lkr. Würzburg). Der Rettungssanitäter des BRK war natürlich im Einsatz. Erst vor wenigen Wochen hatten wir uns in Frankreich gesehen. Als ehrenamtlicher Helfer hatte er zu den Hochzeiten der Flüchtlingswelle im Spätsommer 2015 und später vorbildliche Arbeit geleistet und war deshalb von Kollegen vorgeschlagen worden bei einer Main-Post-Aktion: Er gewann dabei eine Reise mit seiner Frau zum zweiten Vorrundenspiel der deutschen Nationalelf in Paris – wir trafen uns damals vor dem Stadion.
Das Wiedersehen hatten wir uns nicht so vorgestellt. Zwei Jahre später reflektiert der erfahrene Rettungssanitäter das Geschehen in einem Telefonat mit mir: „Natürlich gewinnt man Abstand“, sagt Falger, „aber ab und an sehe ich noch die Frau vor mir, die im Zug-Abteil die Tat unmittelbar mitbekommen hatte. Sie war blutüberströmt, und wenn man in ihre Augen blickte, musste man nicht mehr wissen.“
Alles Erlebte habe in diesen Augen drin gestanden. Die Tat des Flüchtlings, untergebracht bei einer Familie in Gaukönigshofen (Lkr. Würzburg), war der erste islamistische Anschlag in Deutschland. Es folgten einige, darunter ein Sprengstoffanschlag in Ansbach nur wenige Tage später und der Anschlag mit einem Lastwagen auf dem Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016.
In den Sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook gedachten viele Menschen den Opfern. Es meldet sich auch der Würzburger Basketball-Star Dirk Nowitzki aus den USA.
Sprachlos. In Gedanken bin ich in meiner Heimatstadt Würzburg. Kranke Welt....
— Dirk Nowitzki (@swish41) 19. Juli 2016
Die Entwicklung seitdem, vor allem in der Politik, gefällt Martin Falger nicht: Was die „Regierungsparteien derzeit in der Flüchtlingspolitik abziehen“, sei übertrieben. Das Thema werde, aus welchen Gründen auch immer, „hochgekocht“, so der Sanitäter und Flüchtlingshelfer. Mittlerweile würden deutlich weniger Flüchtlinge nach Deutschland kommen, die das Land gut verkraften könne. Die Probleme will er nicht leugnen, „wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass die Integration in vielen Bereichen nicht gut läuft“. Die zu verbessern, wäre ein Ansatz für die Politik.
Die Lage war zunächst unübersichtlich: Es gab Gerüchte über einen zweiten Täter
Martin Falger war einer von vielen Helfern, die in der Nacht des Axt-Attentats Dienst schoben. Malteser, BRK, Johanniter – für alle Rettungsdienste war der Einsatz eine enorme Herausforderung, wie auch für Polizei und Sondereinsatzkommandos.
Erst nach Mitternacht gab es langsam Entwarnung. Der Attentäter war auf der Flucht in Heidingsfeld erschossen worden, Gerüchte über Mittäter, die noch auf der Flucht seien, bestätigten sich nicht. Aufgrund der unklaren Sicherheitslage und der Möglichkeit weiterer Taten waren schon kurz nach der Erstmeldung von den Rettungsdiensten weitere Einheiten an der Talavera in Würzburg zusammengezogen worden.
Die Berichterstattung stellte die Redaktion vor eine Herausforderung: Noch am Abend des Attentats wurde die Titelseite geändert und in weiten Teilen der Auflage erschien bereits eine Geschichte über die schrecklichen Ereignisse im Regionalexpress und Würzburg-Heidingsfeld (siehe unten links). Die anderen beiden Seiten zeigen Hintergrundstücke in der Ausgabe am 20. Juli 2016.
Weit nach Mitternacht wurde ich von einem Polizisten informiert, dass gegen 1.30 Uhr eine Pressekonferenz in Heidingsfeld stattfinden sollte. Er bot mir an, vorauszufahren, ich sollte mit meinem Wagen folgen. Mittlerweile war auch mein Reporterkollege Michael Czygan im Einsatz.
Wir trafen uns in der Winterhäuser Straße, wo mitten auf einer Kreuzung die improvisierte Pressekonferenz mit dem Innenstaatssekretär Gerhard Eck aus dem unterfränkischen Donnersdorf (Lkr. Schweinfurt) stattfand.
Die Stellungnahme des Innenstaatssekretärs Gerhard Eck während der improvisierten Pressekonferenz in der Winterhäuser Straße in Würzburg-Heidingsfeld unweit des Ortes, an dem der Zug zum Stillstand gekommen war. Das Video erreichte 57.531 Personen. (Video: Achim Muth)
Die Ereignisse der Nacht hatten ihn gezeichnet. Auch Würzburgs Oberbürgermeister Christian Schuchardt war vor Ort, sprach den Opfern sein Mitgefühl aus. Es gab fünf Verletzte, vier gehörten einer Familie aus Hongkong an. Auf seiner Flucht verletzte der Attentäter noch eine Spaziergängerin in Heidingsfeld.
Der Würzburger Oberbürgermeister Christian Schuchardt im Gespräch mit meinem Kollegen Michael Czygan vor Ort in der Winterhäuser Straße. (Video: Achim Muth)
Die Berichterstattung über die Hintergründe des Attentats nahmen in den Folgewochen und Monaten einen breiten Raum bei der Main-Post ein.
Ganz bewusst rückten wir auch die Opfer in den Fokus: Sie sollten nicht vergessen werden. Reporterin Angelika Kleinhenz gelang es im Spätherbst 2016 kurz vor ihrem Abflug in die Heimat, mit einigen der Opfern aus Hongkong zu sprechen.
Zwischen zwei und drei Uhr war unser Einsatz beendet. Natürlich waren wir alle viel zu aufgewühlt, um gleich wieder ins Bett zu gehen. Mir kamen die Gespräche mit Sportreporter-Kollegen während der Europameisterschaft in den Sinn. Einige von ihnen waren im November 2015 im Stadion von Paris, als es zu den fürchterlichen Terroranschlägen kam.
Lange bekamen sie die Bilder und Eindrücke nicht aus dem Kopf. Hoffentlich, hatten wir oft gesagt, passiert bei der EM nichts. Es waren dann vier intensive, stressige und auch schöne Wochen in Frankreich gewesen. Und dann fuhr ich zurück nach Deutschland - und der Terror holte mich in der Heimat ein. Direkt vor der Haustüre.
Ich setzte mich ins Auto und fuhr nach Hause. Dort angekommen, ging ich ins Büro statt ins Bett. Ich klappte den Laptop auf und fasste das Erlebte und meine Eindrücke einer Nacht zusammen, die so friedlich begonnen hatte.
Wie haben Sie die Nachricht am 18. Juli 2016 erhalten - und was ging Ihnen dabei durch den Kopf? Beschreiben Sie Ihre ganz persönlichen Erfahrungen in den Kommentaren!
Klar ist lediglioch, dass 2015 absolut jeder ungestraft in unser Land einwandern konnte ohne seine Identität und sein Alter beweisen zu müssen. Man hat den Angaben einfach geglaubt. Würde man nur ein einziges Mal UNS, diejenigen die schon länger hier leben, alles unbewiesen glauben - aber wir müssen alles genauestens nachweisen und mit Schriftstücken belegen.
Absolut gute - und sorgfältige Reportage!
Sowas darf auch nicht in Vergessenheit geraten, unsere Kinder waren zu diesem Zeitpunkt auf dem "Walther - Spielplatz", vielleicht 250 m weiter weg!
Großen Dank heute noch an die Einsatzkräfte, Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst, Notfallseelsorge usw, auch an die Anwohner des Röthenweges, die an die Bahnlinie angrenzen und spontan mit allem geholfen haben, was sie hatten!
Sowas kannte man bis Dato nicht!
https://www.focus.de/politik/videos/axt-attacke-in-wuerzburg-zug-attentat-gruene-kuenast-kritisiert-kopfschuss-der-polizei-und-erntet-shitstorm_id_5742199.html
"Künast" schreibt sich natürlich ohne "h", also "Künast"! Berichtigung! Die Oberlehrer stehen schon in den Startlöchern! Ich meine "Renate Künast von den Grünen" und ihren Tweet!