Als der Würzburger Adelbert Gümbel Anfang August 1914 Frau und Sohn verlassen muss, hofft er, bald wieder zu Hause zu sein. Er und die anderen Soldaten werden mit Jubel verabschiedet. Der schottische Landadelige Malcolm Hay wird Ende August 1914 in Frankreich schwer verwundet. Als Gefangener kommt er wenig später nach Würzburg.
Am 29. August 1914, einem Samstag, liegt der 33-jährige schottische Offizier Malcolm Hay schwerstverwundet in einem Graben neben einer Landstraße in der Nähe des nordfranzösischen Städtchens Caudry. Seine Kameraden haben sich nach einem heftigen Feuergefecht zurückgezogen; jetzt überrennen die Deutschen das Schlachtfeld. In der Nähe brennen die Häuser des Dorfes Audencourt.
Hay, durch einen Kopfschuss halb gelähmt, hat sich seinen Mantel über den Kopf gezogen. Plötzlich hört er einen Schuss. Durch ein Loch in seinem Mantel sieht er einen deutschen Soldaten, der oben auf der Böschung steht. Er gestikuliert und zeigt auf seinen Revolver, um herauszufinden, ob Hay bewaffnet ist. Es ist Malcolm Hays erste direkte Begegnung mit einem Feind, er fürchtet das Schlimmste.
Doch völlig überraschend erlebt er eine Geste der Menschlichkeit: Der Deutsche lässt den Gelähmten aus seiner Wasserflasche trinken. Dann deutet er auf das Rote Kreuz auf seinem Ärmel. „Ich werde niemandem jemals vermitteln können, was für eine Erleichterung es für mich bedeutete, das Kreuz sogar am Arm eines Feindes zu sehen“, schreibt Hay später.
Der Deutsche will ihn aufrichten und als er bemerkt, dass der Schotte gelähmt ist, verspricht er, eine Trage zu bringen.
„Du gehst weg und lässt mich hier zurück“, sagt Malcolm Hay.
„Ich gehöre zum Roten Kreuz“, erwidert der feindliche Soldat. „Du bist deshalb mein Kamerad und ich werde dich nie zurücklassen.“ Hay ist nicht überzeugt. Bevor er losgeht, um Hilfe zu holen, zeigt der Deutsche nochmals auf das Rotkreuzzeichen: „Kamerad, Kamerad, ich werde zurückkommen. Hab keine Angst, ich werde zurückkommen.“
Er hält Wort. Monatelang liegt Hay, der dem Tod so nah war, in Lazaretten in den von Deutschen besetzten Städten Caudry und Cambrai. Ende November ist er so weit wiederhergestellt, dass er per Bahn in ein Kriegsgefangenenlager transportiert werden kann. Es ist die Festung Marienberg in Würzburg. Was er hier und bei der Schlacht im August 1914 erlebt, beschreibt er später in seinem Buch „Wounded and a Prisoner of War.“
In jenem August 1914, dem ersten Kriegsmonat, ist der 27-jährige Soldat Adelbert Gümbel aus Würzburg guter Dinge. Der Vormarsch in Frankreich kommt schnell voran, und Gümbel, Schreiber des Divisionsarztes, träumt davon, spätestens zu Weihnachten wieder bei seiner 20-jährigen Frau Maria und dem im Mai geborenen Sohn Wilhelm zu sein. Im Stadtteil Grombühl haben sie kurz zuvor eine kleine Wohnung bezogen.
Adelbert Gümbel ist mit Hunderten anderer Würzburger Soldaten Teil jener deutschen Invasionsarmee, die in Frankreich und dem neutralen Belgien einmarschiert ist. Er weiß nicht, dass der Krieg bald zum mörderischen Stellungskrieg wird und dass er erst im Juli 1915 für wenige Tage zu Frau und Kind zurückkehren kann. Es sind Männer wie Malcolm Hay, die sich an der Seite der Franzosen den Deutschen in den Weg stellen und jeden Quadratmeter französischer Erde verteidigen.
Alles hatte scheinbar so gut begonnen. In seiner Kriegschronik, die heute im Würzburger Staatsarchiv liegt, beschreibt Gümbel den Auszug des 9. Infanterieregiments aus Würzburg am 4. August. Die Zuschauer bringen den Truppen stürmische Ovationen dar, die meisten scheinen zu glauben, „dass das Regiment zu einem fröhlichen Wettbewerbe auszöge“.
Am 8. August, der Zug mit den Würzburger Soldaten legt einen Zwischenhalt in Zweibrücken ein, betrachtet Gümbel die prahlerischen Aufschriften auf den Güterwagen, die, gefüllt mit Soldaten, nach Frankreich rollen. „Paris wird bayerisch“, liest er, „Petersburg wird preußisch“.
Die Deutschen, die Frankreich zuletzt im Krieg von 1870/71 besiegt und das Elsass und Lothringen dem Reich einverleibt haben, sind siegessicher. In Würzburg erinnert die Sedanstraße noch heute an die Schlacht vom 1. September 1870, die damals eine Vorentscheidung brachte. „Diner im Hotel de Paris“ steht auf einem vorbeirollenden Waggon. Gümbel notiert, was als Speisefolge angekündigt ist: „Am Spieß gebratene Franzosen, gesottene Engländer, eingemachte Russen“.
Obwohl Adelbert Gümbel nicht zur kämpfenden Truppe gehört, wird er schon früh Zeuge der Grausamkeit des Krieges. Am 21. August fahren Wagen mit verwundeten Franzosen vorbei. „Notdürftig verbunden und über und über mit Blut bedeckt boten sie einen jammervollen Anblick“, steht in seiner Kriegschronik. „Ich sah einen Franzosen auf dem Wagen sitzen, dem ein Infanteriegeschoss auf der rechten Schläfenseite ein- und auf der linken Seite ausgedrungen war. Die Augen waren blutunterlaufen.“ Gümbel wundert sich: „Er klagte nur einzig und allein über Kopfschmerzen.“
In der Nähe brennt ein Dorf, von deutscher Artillerie völlig vernichtet. Der Pfarrer hat französische Soldaten versteckt, die durchmarschierende Deutsche wenig später aus dem Hinterhalt erschossen. Die Rache ist furchtbar, wie Gümbel mit eigenen Augen sieht: „Außer einer alten Frau, die in einem Trümmerwinkel sich einen wohnungsartigen Raum eingerichtet hatte, war kein Lebewesen zu erblicken. Männer, Frauen, Kinder und Greise lagen unter Schutt und Asche begraben.“
Am 24. August kommen Gümbel und seine Kameraden an einem Wegweiser vorbei. Noch 355 Kilometer sind es bis Paris. „Wir berechneten, dass wir in circa 14 Tagen in der Hauptstadt einziehen würden“, notiert er. Am Tag zuvor hat er seiner Frau nach Würzburg geschrieben, dass, wenn der Krieg so weitergehe, bald wieder Friede sein werde.
Es dauert nur noch wenige Wochen, bis Deutsche und Alliierte die schmerzhafte Wahrheit erkennen: Dieser Krieg findet kein rasches Ende. Die französische Hauptstadt wird Adelbert Gümbel nie erreichen.
Am Stadtrand von Caudry erstreckt sich heute ein großer Soldatenfriedhof. Hunderte von alliierten Soldaten sind hier begraben. Wenn am 29. August 1914 nicht Helfer gekommen wären, darunter ein Mann mit einem Roten Kreuz auf dem Ärmel, stünde wahrscheinlich auf einem der Grabsteine der Name von Malcolm Hay.