Es geht stark auf Mitternacht zu, als der grauhaarige Kerl mit der Figur eines Vierzigtonners zur Tür hereinkommt – leise, als wolle er nicht auffallen. Im „Red Lion“ dem Irish Pub in der Semmelstraße, sind die Gäste um die Zeit eher mit ihrem Bier und sich selbst beschäftigt. Und so dauert es eine Weile, bis einer, kaum halb so alt, ihn erkennt: „Gunter Gabriel“, sagt er mit einer nickenden Kopfbewegung zu seinem Nachbarn am Tresen. „Wer?“ fragt der Nebenmann, dem man eher nicht zutraut, deutsche Countrymusik zu mögen.
Das gilt nicht für Bernhard Rüthlein, der im „Red Lion“ das Sagen hat. Er kennt den Sänger, seit der bei seinem ersten Job in der Berliner Disco „Dachluke“ Platten aufgelegt hat. Radio-Moderator Charly Rösch, der den County-Sänger („Hey Boss, ich brauch' mehr Geld“) auch schon vor 25 Jahren getroffen hat, weiß: Gabriel hat Anfang der 70er Jahre im Würzburger Odeon als Plattenaufleger gearbeitet, allerdings unter dem Künstlernamen „DJ Sam Marco“.
Der 68-jährige Sänger wirkt müde an diesem Abend nach einem Auftritt im Funkhaus Würzburg, aber authentisch: Ein Großstadt-Cowboy, dessen sonorer Stimme selbst Hektoliter Bier und Schnaps nichts anhaben konnten. Eine ehrliche Haut, die ungestört mit ein paar Freunden ihr Feierabendbier trinken will, von „Alten“ schwärmen und über „Schwuchteln“ schimpfen, ohne sich Gedanken über politische Korrektheit machen zu müssen.
Nicht jedes Klischee erfüllt der Troubadour der Trucker: Das Proleten-Image ist für die Bühne, privat ist er eher leise. Wer in Würzburg erwartet hatte, jetzt würde das Bier fließen wie Benzin in einen Zwölfzylinder, sieht sich getäuscht: Der Mann mit dem Gesicht eines Canyons bestellt Cola. Gabriel muss noch in der Nacht weiter nach Wolfsburg, wo er am nächsten Tag einen Auftritt hat.
Er spottet darüber, dass ihm wohl keiner einen VW-Phaeton, das Edelmodell aus Wolfsburg, auf den Hof stellen würde: „Ich fahr einen alten 190-er, den liebe ich und den klaut mir keiner.“ Aber gerade fährt ihn sein Gitarrist Peter, Gabriel hat gerade mal wieder den „Lappen“ los.
Im Moment ist er mit seiner Autobiografie „Wer einmal tief im Keller saß“ auf Tour, zudem mit seinem neuen Album „Sohn aus dem Volke“. Außerdem verkörpert er die Titelrolle im Musical „Hello, I'm Johnny Cash“ im Berliner Renaissance-Theater. Wenn er erzählt, füllt sein Bass den Raum und zieht Zuhörer an wie das Licht die Motten. Er kann Scherze machen, bei denen emanzipierte Frauen zum Tranchiermesser greifen würden. Aber genauso kann er über Kästner, Hemingway oder die Liebesgeschichte der Reich-Ranickis im Warschauer Ghetto schwärmen.
Das Gespräch plätschert dahin, über das Truckerfest in Geiselwind, warum er im Juli im Playboy ist (im Interview, nicht als Klappseite) , wie er in Hamburg einen Rocker bei einer Weihnachtsfeier verblüffte (Gabriel drückte ihm eine Bibel in die Hand und ließ ihn überraschend die Weihnachtsgeschichte vorlesen) und warum Cindy und Bert auch gute Lieder aufgenommen haben.
Zum Glück erinnert er sich kurz nach einer guten Stunde, dass er ja noch in der Nacht nach Wolfsburg muss. In jüngeren Tagen hätte es wohl dem Morgen gegraut, ehe wir mit Gunter Gabriel aus dem „Red Lion“ getaumelt wären – vermutlich schaurig singend: „Hey Boss, ich brauch mehr Geld“.