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Würzburg
Auf dem Motorrad über den Himalaja
Nach dem Tod seines Sohnes hat Dieter Schneider sein Leben umgekrempelt. Auf Reisen zu sagenumwobenen Orten treibt ihn eine Mission: Er spricht über die Depression. 
Dieter Schneider im Himalaja auf 4000 Metern Höhe zwischen Nubra-Valley und Pongdong-Lake.
Foto: Wouter van der List | Dieter Schneider im Himalaja auf 4000 Metern Höhe zwischen Nubra-Valley und Pongdong-Lake.
Wolfgang Jung
Wolfgang Jung
 |  aktualisiert: 03.12.2019 10:50 Uhr

Alles ist anders in Pakistan. Steckt ein Polizist in dieser Uniform oder ist das ein Soldat? Dieter Schneider kommt aus Würzburg, er kann das nicht unterscheiden. Immerhin glaubt er zu wissen, dass die Löcher, die pakistanische Polizisten und Soldaten einem in den Leib schießen, gleich groß sind. Alle, erzählt er, haben eine Kalaschnikow.

Seit vier Monaten ist der 59-Jährige auf seinem Motorrad unterwegs, 23000 Kilometer weit ist er gefahren: Seine Mission: Menschen im Kampf gegen die Depression inspirieren. Schneiders Sohn war schwer depressiv, vor vier Jahren hat er sich umgebracht.

Der Uniformierte in dieser staubigen Ecke Pakistans ist offenbar ein Polizei-Offizier. Er warnt: "Pakistan police don't know the rules!" - Die pakistanische Polizei kenne die Gesetze nicht. Wie zum Beweis fuchtelt ein Ordnungshüter mit dem Schlagstock vor Schneider herum. Auf einem Tisch liegt griffbereit ein zweiter Stock, Schneider greift ihn sich und vollführt eine Parade Riposte - die Abwehr des Angriffs mit augenblicklichem Gegenangriff - und das Zepter pakistanischer Polizeigewalt fliegt durch die Luft.

Dieter Schneider in Ghom, Iran, vor der Jamkaran-Moschee. Die Mullahs sagten ihm, eine Depression sei Folge mangelnden Gottesglaubens.
Foto: Wouter van der List | Dieter Schneider in Ghom, Iran, vor der Jamkaran-Moschee. Die Mullahs sagten ihm, eine Depression sei Folge mangelnden Gottesglaubens.

So erzählt es Schneider und so kann es sich begeben haben. Der Mann war in jungen Jahren ein Tauberbischofsheimer Säbelfechter. 1984 und 1988 hat er bei den Olympischen Spielen gefochten. Und der Polizist? "Hat gelacht."

99 Prozent der Menschen sind gut

Schneider ist in Chandigarh, in Nordindien, als unsere Redaktion ihn für einen Videochat erreicht. Ereignisse wie das in Pakistan ließen sich leicht dramatisieren, sagt er, "aber vor Ort siehst du, das ist nicht gefährlich". 99 Prozent der Menschen, die er auf seiner Tour kennen lernte, seien gute Menschen, "und das eine Prozent ist weit weg, die sind meistens in der Regierung".

Schneider war ein gefragter Werbe- und Marketingexperte mit einer eigenen Agentur. Nach dem Tod seines Sohnes hat er sie verkauft. Seine Reisen - vom Oktober 2015 bis Januar 2016 tourte er durch Afrika bis ans Kap - finanzierte er, sagt er, vom Ersparten.

Er hat geschichtsträchtige und sagenumwobene Orte und Landschaften bereist: das Menschengewimmel Istanbuls, weltabgewandte Kirchen und Klöster in den georgischen und armenischen Bergen, die großartigen Moscheen in Ghom, Isfahan und Persepolis im Iran, 5300 Meter hohe, schneebedeckte Pässe im Karakorum-Gebirge, die Tempel der Sikhs in Kaschmir, die Städte Radjastans, die endlos weiten Wüsten Vorderasiens oder McLeod Ganj in Nordindien, wo der Dalai Lama residiert.

 Kinder ohne Schuhe, Leute ohne Beine

Der erste Blick auf den Nangar Parbat, der erste Schritt auf dem großen Imam-Square in Isfahan oder das erste Foto vom Taj Mahal in Indien - Schneider erzählt, da stocke ihm jedes Mal der Atem. Die Augen würden ihm "glasig und die ein oder andere Träne muss ich aus dem Augenwinkel wischen. In solchen Momenten wird das Staunen physisch spürbar." Für diese Momente reise er, "sie sind alle Strapazen, Leiden und Kosten wert".

Schneider sieht große Armut auf seiner Tour, so viele Bettler, Kinder ohne Schuhe, Leute ohne Beine, die vielen körperlichen Gebrechen. Er berichtet von einer Mutter, mit einem kleinen Kind auf dem Arm, die ihm bettelnd die Hand entgegenstreckte, "und das Kind machte das auch schon", und er fragt: "Warum nehmen die sich nicht das Leben?" Dass sie leben wollen, nimmt er als Bestätigung dafür, dass Depression und Suizid eine Krankheit und ihr schlimmstmögliches Ende sind.

 "Die machen sich das so einfach"

Er meint, es müsse viel offener über die Depression gesprochen werden und über mehr Geld für Forschung und Therapieplätze. So tut er es auf seiner Reise. Ein orthodoxer Bischof in Armenien erklärt ihm, sein Sohn sei an der Depression gestorben, weil er nicht genug geglaubt habe. Die Mullahs in Ghom meinen das auch: "Wenn du nicht genug an Gott glaubst, kriegst du sowas." Buddhistische Mönche in Tibet glauben, eine Depression sei schlechtes Karma aus einem früheren Leben. "Die machen sich das so einfach", sagt Schneider.

Diesseits der Kirchen, Klöster, Moscheen und Tempel erzählen ihm die Leute, dass die Depression auch bei ihnen verbreitet sei und der Suizid nicht selten.

In den Religionen, ihren Kulten und Mythen, findet Schneider keine Hilfe. In McLeod Ganj ließ er sich vom Dalai Lama faszinieren, "mit seinem wachen Blick und dem lustigen Gesichtsausdruck". Schneider besuchte seine Unterrichtungen und erlebte "eine Ausstrahlung und ein Charisma, wie ich es noch von keinem Menschen gespürt habe". Aber klar war ihm auch: "Ich bin das nicht. Ich habe Probleme mit dem mystischen Zeug." Er finde es toll, deswegen sei er hingefahren, aber er sei auch "brutal realistisch". Zu hippiemäßig findet er es und das bedauert er durchaus, "weil da einige Menschen einen glücklichen Eindruck" machten.

Einen Sohn verloren, elf Brüder gewonnen

Gelegentlich lässt er Geld zurück, wenn er weiterfährt, etwa einem Kloster in Georgien. Drei Tage hatte der dort verbracht, und als er weiterfuhr, versicherte ihm der Abt: "Du hast einen Sohn verloren, aber elf Brüder gewonnen." In Nordindien erzählte ihm der Generalsekretär des Dalai Lama von einer Klinik für depressionskranke Kinder; Schneider spendete 1000 Euro, namens der Stiftung Deutsche Depressionshilfe.

Seine Tour nennt er "Fellows Ride", was man mit "Gefährtenritt" übersetzen kann und Motto einer Biker-Veranstaltung zugunsten der Stiftung Deutsche Depressionshilfe war. Seine Facebook-Seite nennt er so, auf ihr kann man seine Reise verfolgen. Vorläufiges Ziel seines Ritts ist das sagenumwobene Katmandu in Nepal. Ob er von dort nach Hause kommt oder den indischen Subkontinent von Nord nach Süd durchquert und auf Sri Lanka überwintert, das weiß er noch nicht. Er ist frei, zu tun was er will. Was er tut, sei kein Akt der Befreiung, sagt er, und dass er den Tod seines Sohnes auf der Tour durch Afrika verarbeitet habe. Die Freiheit, die er jetzt genieße, sei einfach ein Geschenk.

 
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  • T. B.
    Es braucht immer wieder solche Geschichten oder Erzählungen um zu wissen, wie unbedeutend das ist, was wir für wichtig erachten. Das Leben kann uns innerhalb von einer Sekunde völlig aus der Bahn werfen. Ein klein wenig mehr Demut im Alltag würde uns allen gut tun.
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