Etwa 50 Millionen Antibiotika werden jährlich weltweit unnötigerweise verschrieben. Und jedes Jahr sterben laut Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig allein in Deutschland 6000 Menschen an den Folgen von Infektionen mit multiresistenten Bakterien. Am gestrigen Freitag war „Europäischer Antibiotikatag“. Und wie viele Antibiotika an diesem Tag sinnlos verschrieben wurden und jetzt die Resistenzentwicklung befördern – man kann es sich ungefähr ausrechnen.
18. November ist Europäischer Antibiotika-Tag
Ausgerufen hat den Antibiotika-Tag das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten („European Centre for Disease Prevention and Control“, kurz ECDC). Es wurde in Stockholm von der Europäischen Union eingerichtet, um Infektionskrankheiten in Europa besser und leichter bekämpfen zu können. Und es soll die Gefahren von Infektionskrankheiten erkennen, bewerten – und darüber informieren.
Am Freitag also sollte es um Antibiotika und ihre Risiken gehen – und um den verantwortungsvollen Umgang damit. Die Initiative der europäischen Präventionsfachleute richtete sich an Patienten wie Ärzte gleichermaßen – denn nach wie vor werden antimikrobielle Chemotherapeutika auf hohem Niveau verschrieben. Nach wie vor ist die Erwartungshaltung an die heilende Wirkung ungebrochen.
Wie viele wissen, dass unnötige Einnahmen Antibiotika wirkungslos machen?
Aber das Allgemeinwissen über Antibiotika? Eher gering. Laut der aktuellen „Eurobarometer-Umfrage“ der Europäischen Kommission wissen – nur – 44 Prozent der Deutschen, dass Antibiotika gegenüber Viren unwirksam sind. 45 Prozent glauben, dass die Mittel auch gegen Grippe und andere Viruserkrankungen helfen. Laut ECDC ist nur jedem zweiten Deutschen bewusst, dass Antibiotika bei Erkältungen nicht wirken. Fast ein Drittel weiß nicht, dass Antibiotika Nebenwirkungen haben können. Immerhin: Neun von zehn Befragten wissen, dass die unnötige Einnahme die Antibiotika auf Dauer uneffektiv macht.
Hauptbotschaft: Weniger ist mehr
Dass der Europäische Antibiotika-Tag jedes Jahr am 18. November stattfindet, kommt nicht von ungefähr: Gegen Jahresende wird gehustet und geschnieft, Infekte der oberen Atemwege häufen sich. Doch die (Virus-)Erkrankungen werden noch immer oft falsch mit Antibiotika behandelt, was das Problem der entstehenden Resistenzen verstärkt. Noch immer fehlen Schnelltests, mit denen der Hausarzt Vireninfektionen von bakteriellen Infektionen sicher unterscheiden kann. Die Hauptbotschaft des Antibiotikatages deshalb: Weniger ist mehr. Je sorgsamer, sparsamer und kritischer die antimikrobiellen Medikamente eingesetzt werden, desto effektiver bleiben sie als hochwirksame Arzneimittel bei ernsten und lebensbedrohlichen Infektionen.
Resistenzen: Das Rennen zwischen Keim und Medikament
Resistenzen gehören zur Evolution. Bakterien bevölkern die Erde seit zwei Milliarden Jahren, sie bekämpfen sich untereinander, sie verändern sich fortwährend, sie entwickeln in ungeheurer Geschwindigkeit neue Abwehrmechanismen gegen Bedrohungen. Und so entstehen – seit der Entdeckung der Antibiotika vor rund 100 Jahren und seit des flächendeckenden Einsatzes des Penicillins – immer neue Varianten, die widerstandsfähig sind gegen die antibakteriellen Wirkstoffe.
Seit rund zehn Jahren aber sind keine neuartigen Wirkstoff-Klassen mehr gefunden, keine neuen Medikamente gegen sehr schwer behandelbaren Bakterien mehr zugelassen worden.
Rezeptur aus dem Mittelalter verblüfft die Forscher
Umso mehr versetzte ein Rezept die Wissenschaftswelt in Erstaunen, das in einem mittelalterlichen Manuskript aus der British Library in London entdeckt und jetzt nachgekocht worden war: ein jahrtausendealtes Mittel aus Zwiebeln und Knoblauch gegen Augeninfektionen. Was zwei Mikrobiologen und eine Historikerin der Universität Nottingham im vergangenen Jahr beim Nachbrauen im Labor herausfanden: Die Zubereitung ist selbst gegen den gefährlichen Methicillin-resistenten Staphylococcus aureus, auch als Superkeim MRSA bekannt, äußerst wirksam.
„Nimm gleiche Mengen an Wein und Ochsengalle“
Dr. Christina Lee, die Historikerin, war auf die „Augensalbe“ in Bald?s Leechbook, einer Sammlung alter Rezepturen gegen vielfältige Leiden aus der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts, gestoßen.
Da steht, auf Blatt zwölf, geschrieben: „Nimm gleiche Mengen an Lauch und Knoblauch, zerstampfe sie gut, nimm gleiche Mengen an Wein und Ochsengalle, mische sie mit dem Lauch, gib alles in einen Kessel aus Messing, lasse die Mixtur neun Tage lang ruhen, drücke sie anschließend durch ein Tuch, kläre sie gut und gib sie in ein Horn.“ Es folgte in der mittelalterlichen Schrift noch ein Rat zur Anwendung: „Zur Nachtzeit gib sie mit einer Feder auf das Auge, das beste Mittel zur Behandlung eines Gerstenkorns.“
Mikrobiologin Dr. Freye Harrison und ihr Team versuchten nach dieser Anleitung die uralte Salbe wieder zu kreieren – so getreu wie möglich nach dem Originalrezept, auch wenn sich unsere heutigen Feldfrüchte von den mittelalterlichen Vorläufern wohl unterscheiden. Die Augensalbe testeten sie an einer großen MRSA-Kultur – mit verblüffendem Ergebnis. Die Mikrobiologen hatten eine leichte antibiotische Wirkung des Mittels aus Bald's Leechbook erwartet. Heraus kam höchste Wirksamkeit der Inhaltsstoffe. Die besondere Kombination aus Lauch, Wein, Ochsengalle und Messing tötete den Forschern zufolge bis zu 90 Prozent der resistenten Staphylokokken.
Nicht Aberglaube, sondern Erfahrung
Ist die Salbe gar wirksamer als jedes heute verfügbare Antibiotikum? „Aktuell wird erforscht, wie das historische Rezept zu einem modernen Arzneimittel werden könnte“, sagt Dr. Johannes Mayer von der Forschungsgruppe Klostermedizin der Universität Würzburg und beratend an der Nottinghamer Arbeit beteiligt. Der Medizinhistoriker fügt allerdings an: „Das kostet einige Zeit und würde nicht geringe finanzielle Mittel beanspruchen.“
Die Würzburger Klostermedizin-Forscher versuchen, die Kollegen zu unterstützen, indem sie die Verwendung der Bestandteile der Augensalbe in allen antiken und mittelalterlichen Werken zusammenstellen. „Da geht es darum, die genau Formulierung zu stützen. Vor allem die Frage, ob eher Lauch oder Zwiebel gemeint ist.“ Denn wie sah der Knoblauch vor mehr als 1000 Jahren aus, wie der Wein? Die alten Rezepturen jedenfalls, sagt der Medizinhistoriker, gehen nicht auf Aberglaube zurück, sondern Erfahrung: „Es ist immer wieder mit Erstaunen festzustellen, dass manche scheinbar verrückte Zusammenstellung der Ingredienzien, bei genauerer Überlegung oder im Versuch doch Sinn machen. Das gilt gerade auch für diese Augensalbe.“
Wichtig: Der richtige Topf
Schon vor zehn Jahren hatten Forscher aus den USA die Salben-Rezeptur der altenglischen Handschrift untersucht. Aber sie hatten – aus hygienischen Gründen – die Versuche mit modernen Töpfen gemacht. Die Ergebnisse waren ernüchternd. Erst die Nottinghamer Wissenschaftler hatten dann im vergangenen Jahr – weil im Rezept ausdrücklich ein Messing- oder Kupfertopf gefordert wird – Kupferstreifen in die Mixtur eingelegt. „Nach augenblicklichen Kenntnisstand, war das ein wichtiger Punkt für den Durchbruch“, sagt Mayer. „Außerdem wurden verschiedenen Raumtemperaturen getestet, dabei zeigte sich, dass kühle 4 Grad am besten sind.“
Auch bemerkenswert: Das Weglassen des Porrees reduzierte die Wirkung deutlich, wurden Wein oder Knoblauch weggelassen, so verschwand die antibakterielle Wirkung nahezu komplett. Was wäre denn nötig, dass aus dem historischen Rezept wirklich ein modernes Arzneimittel werden könnte? „Es sind leider noch sehr viele Punkte zu klären“, sagt Mayer, „etwa die genaue Dosierung, Haltbarkeit und Anwendungsform ob als Salbe oder Dragee.“
Natürliche Antibiotika und ihr Potential
Wenngleich verblüfft, völlig überrascht waren die Würzburger Forscher von dem Ergebnis nicht: „Im Lorscher Arzneibuch aus dem späten achten Jahrhundert findet sich beispielsweise eine Wundsalbe, zu deren Zutaten neben Honig und Käse auch Schafdung gehört.“ Auch diese Mischung könnte tatsächlich antibiotische Wirkungen entfalten, sagt Mayer – „auch wenn man dies lieber nicht klinisch ausprobieren möchte“. Was die Experimente aus Nottingham für ihn vor allem zeigen: „Dass es nach wie vor etwas zu entdecken gibt in den alten Schriften und dass wir weiter an natürlichen Antibiotika forschen sollten.“
Alte Hausmittel
Je kritischer Antibiotika eingesetzt werden, desto wirksamer bleiben sie im Ernstfall. Bei den üblichen kleinen Infekten sollte man auf pflanzliche Alternativen mit antiviraler und antibakterieller Wirkung zurückgreifen.
Die Zwiebel hat ähnliche Wirkungen wie der Knoblauch, nur schwächer. Sie wirkt leicht antibakteriell, leicht blutdruck- und blutzuckersenkend, außerdem hemmt sie das Wachstum von Pilzen. Der althergebrachte Einsatz von Zwiebelsäckchen bei Mittelohrentzündung ist tatsächlich hilfreich, sagt Medizinhistoriker Dr. Johannes Mayer: Dazu wird die Zwiebel zerkleinert, in Butter gedünstet, in ein Säckchen gegeben, das man sich möglichst heiß auf das entzündete Ohr legt. Und bei Insektenstichen verreibt man eine durchgeschnittene Zwiebel auf der Einstichstelle – das lindert.