Von Stephan Brünjes
Frankensteins Arm ist beige und gut 100 Meter lang. Mit seinem zaunhohen Bizeps hat er die Prinzessin fest im Griff, drückt ihr Gartentor ein und begräbt Bushaltestellenhäuschen unter sich. Alltagshorror in Hout Bay, einem kleinen Fischerort, gut 20 Kilometer südlich von Kapstadts Zentrum: Die Princess Road wird mal wieder von der örtlichen Wanderdüne verschüttet – vergeblich bekämpft von schippenden und fegenden, aber erstaunlich gut gelaunten Anwohnern wie Café-Besitzer Rob Gertzen. Er und die anderen knapp 20.000 Einwohner nennen den übermächtigen Eindringling „Frankenstein“ – ein Seitenhieb gegen die Stadtverwaltung, die das Sandmonster schuf: Sie bepflanzte vor Jahren die noch übersichtliche Düne, wollte sie damit klein halten. Was gründlich misslang: Seitdem kann selbst der am Kap starke Südwestwind die Düne nicht mehr auseinanderblasen, von den Pflanzenwurzeln zusammengehalten wächst Frankenstein prächtig…
Mit dem Auto entkommen wir ihm gerade noch auf dem Weg nach Süden zum Kap der Guten Hoffnung. Ein paar Kilometer und einen Rückspiegelblick weiter wird klar, in was für einer Postkartenbucht Hout Bay liegt. Eine der ersten Panorama-Aussichten mit Wow-Faktor am „Chapmans Peak Drive“. Neun Kilometer und 114 Kurven lang schlängelt sich diese Küstenstraße eng am Felsenrand entlang, mehrere hundert Meter über der tosenden Atlantik-Gischt und vom Abgrund nur durch ein oft kaum kniehohes Mäuerchen getrennt. Ein Mercedes durchbrach sie 1989 in einer Kurve – weder der erste noch der letzte Absturz, aber der bekannteste. Weil der Fahrer nach dem Aufprall etwa hundert Meter tiefer nahezu unversehrt aus seinem Auto kletterte, hielt Mercedes es für eine gute Idee, den Crash für einen Werbespot nachzustellen, um die Robustheit seiner Karossen zu preisen. Was prompt auch BMW zu einem Dreh auf dem Chapmans Peak Drive animierte: An der Mercedes-Absturzstelle schleudert der BMW kurz, bleibt aber auf der Fahrbahn, begleitet von der doppeldeutigen Frage: „Doesn’t it make sense, to drive a car – lange Pause – that beats the bends?“ Frei übersetzt: „Wär’s nicht besser, ein Auto zu fahren, das auf der Fahrbahn bleibt?“ Verstanden hat natürlich jeder: „Wär’s nicht besser, ein Auto zu fahren, das den Benz schlägt?“
Abstürzen ist heute kaum noch möglich, denn in vielen Kurven gelten Sightseeing-freundliche Tempolimits zwischen 20 und 40 km/h, andernorts bremsen Tour-de France-artige Bergetappen-Kletterer auf ihren Rennrädern die Autofahrer und schenken ihnen Quality Time für Genießerblicke auf eine Farbenvielfalt wie im Tuschkasten: schroffe, mal sandfarbene, mal braune Felsen, türkises Meer, blauer Himmel, grüner, brokkoliartiger Steilküstenbewuchs. Und dazwischen übermütige Frauen, die am höchsten Punkt, dem Chapmans Peak, die Begrenzungsmauer zum Schwebebalken machen – balancierend, mit gut gefüllten Sektgläsern in den Händen.
Von solchen Momenten konnten die Arbeiter – unter ihnen viele Sträflinge – noch nicht mal träumen, als sie den Drive ab 1915 mit Schwerstarbeit in die Küstenfelsen sprengten. Damals eine technische Meisterleistung. Am 6. Mai 1922 wurde die Straße eröffnet und bekam schon bald den liebevollen Spitznamen „Chappies“. Benannt ist sie nach John Chapman, einem britischen Skipper, der 1607 das Kap der Guten Hoffnung umsegeln wollte, auf der Suche nach etwas Essbarem in der Hout Bay ankerte und an Land ruderte.
Vielleicht dorthin, wo das Städtchen Noordhoek liegt? Hier ist es heute bei einer Chapmans Peak-Tour wie in der Achterbahn auf dem Rummel: Was – schon vorbei? Chappies’ Ende ist zugleich der Beginn spektakulärer XXL-Strände: Noordhoek Beach ist so was wie der Weiße Riese am Kap, in seiner kilometerlangen Ausdehnung nur aus dem Auto in der Vorbeifahrt von oben so richtig zu erfassen.
Von der hier schon mal stürmischen Atlantikseite geht’s rüber an die ruhigere Ostküste der Kaphalbinsel zur False Bay – so benannt von einigen der ersten holländischen Kolonisatoren. Sie wähnten sich hier so um 1652 am Ziel, merkten dann aber, sie ankern in der falschen Bucht.
Genau die richtige hingegen war sie dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts für Kapstadts inzwischen britisch geprägten Geldadel: Er machte die False Bay zum mondänen Wochenendziel mit Sommer-Cottages für die Reichen und Bleichen. Damit vor allem Letzteres so blieb, hielt man seine Haut weitgehend bedeckt und entblößte sich allenfalls partiell – in eigens gezimmerten, quietschbunten Umkleide-Holzbuden, die im Örtchen Muizenberg noch heute gut erhalten am Strand leuchten. Viel nackte Haut zeigen auch heutige Wasserratten nicht – fast alle tragen schwarze Wurstpelle und weißes Brett – den wärmenden Surfanzug mit -board unterm Arm.
In Simons Town, dem übernächsten Ort, ist eine tierische Begegnung geplant, die aber warten muss zugunsten der Fahrt durch ein victorianisches Freilichtmuseum. Denn so sieht die Main Road aus: imperiale Hotels und Villen mit Arkaden, weißen, verschnörkelten Veranden und Backsteingiebeln, grasgrünen Dächern und in der Seebrise fächelndem Union Jack über dem Eingang. Absoluter Hingucker, wenn auch nicht victorianisch: „Fringe“, der Vintage-Friseur – komplett eingerichtet wie in den 1950er Jahren mit Spiegeln, aus denen nackte Kerzen-Glühbirnen ragen. Davor schwarze Sitze mit Kopfstützen, wie aus einem US-Straßenkreuzer ausgebaut.
Etwas underdressed erscheinen wir dann zum Meeting am Boulders Beach, dem Südstrand von Simons Town. Denn die Gastgeber tragen sämtlich Frack. Sie sind nur 60 Zentimeter groß, watscheln tollpatschig auf weißen Felsen umher und tröten dabei wie zerbeulte Hupen: afrikanische Brillenpinguine, vom Aussterben bedroht und deshalb auch hier auf Abstand von ihren menschlichen Fans gehalten – diese dürfen die Tiere nur von etwa hundert Meter entfernt gelegenen Holzstegen beobachten. Aber mit Glück kommt ein besonders neugieriger Pinguin rüber und tapst zwischen den Menschen herum
Tun dies auch die Paviane im weiter südlich gelegenen Nationalpark rund um das Kap der Guten Hoffnung, dann bloß alle Schlüssel, Ketten und Picknickpäckchen und Ähnliches festhalten! Die ebenso flinken wie frechen Affen klauen sie sogar durch kaum geöffnete Autoscheiben und beißen die Bestohlenen obendrein noch. Weshalb es bei Strafe verboten ist, Paviane zu füttern. Die Anfahrt zum Kap führt durch eine eher unspektakuläre, niederstämmige Buschlandschaft. Achtung, wer zur „Guten Hoffnung“ will, muss kurz vorm Ziel rechts abbiegen und diese Straße zuvor auf der Karte finden – Vorwegweiser gibt es nicht.
Sofern nicht gerade ein Sturm das Kap zur windig-dramatischen Ecke macht, ist es ein unspektakulärer Auto- und Buswendeplatz mit Kletterfelsen. Und doch alle paar Minuten das Happy End vom Kontinent, wenn sich deutsche Pärchen, asiatische Familien oder US-Motorradklubs mit großem Hallo fürs Beweisfoto hinter dem braunen Cape of Good Hope-Holzschild versammeln.
Die Fahrt zurück über den Chapmans Peak Drive hingegen ist ein Muss, ein Sunset-Cruise der besonderen Art – durch gleißend oranges Sonnenuntergangslicht, das die Felsenstraße nun rostrot glühen lässt. Und ohne Hindernisse, denn in Hout Bay hat sich Frankenstein inzwischen schlafen gelegt.