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WÜRZBURG
Anonyme Alkoholiker: Kampf gegen den Suff
Wolfgang Jung
Wolfgang Jung
 |  aktualisiert: 26.04.2023 23:35 Uhr
Heiner und Caroline sind bei den Anonymen Alkoholikern. Sie haben furchtbare Abstürze in den Suff hinter sich. Jetzt sind sie trocken und kämpfen Tag für Tag darum, es zu bleiben. Ein Gespräch mit Leuten, die nie mehr einen Tropfen trinken dürfen.


Frage: Ab welchem Quantum wird ein Trinker zum Alkoholiker?

Heiner: Das muss jeder selbst wissen. Es gibt keine Formel, nach der man sagen kann: Ich bin Alkoholiker. Ich weiß zum Beispiel nicht, wann bei mir der Umschlag war.

Selbst wenn ich es rückwirkend mir vor Augen führe … Es gab sicherlich schon Anzeichen … Ich kann mich erinnern: Als mein Großvater seinen 75. Geburtstage hatte, im Jahr 1972, da habe ich Suppe gegessen und da habe ich schon gemerkt: Hoppla, du zitterst ja. Aber ob ich das schon abhängig war oder nicht, weiß ich nicht.
 
Wie alt waren Sie?

Heiner: 21.
 
Ach du liebe Zeit!

Heiner: Ich habe dann noch weitersaufen müssen bis ich 37 war, also richtig heftig noch. Aber wann ich abhängig war und wann nicht? Keine Ahnung.
 
Wie war das bei Ihnen, Cornelia?

Cornelia: Ich habe relativ spät angefangen, Alkohol zu trinken, weil – der hat mir gar nicht geschmeckt. Wobei ich mit 14 einen ganz fürchterlichen Rausch hatte, und der hat mir scheinbar so gereicht, dass das bis 21 angehalten hat.

Dann habe ich doch relativ schnell relativ viel getrunken und auch viel vertragen.

Schlechtes Zeichen: der automatische Weg in die Kneipe.

Warum haben Sie so viel getrunken?

Cornelia: Es war einfach das Metier. Ich war im Baugewerbe unterwegs, und da ist das irgendwie einfach so. Dann war ich im Motocross unterwegs, da ist das auch einfach so, und irgendwann kam auch die Zeit, wenn ich abends oder nachts von Sitzungen heimkam, dann war das automatisch der Weg in die Kneipe. Und wann ist es gekippt?

Cornelia:Das dürfte so 15 Jahre her sein. Da habe ich mir auf meiner Terrasse eine Flasche Rotwein aufgemacht. Und da habe ich mir – ich weiß nicht, warum ich mich daran erinnere –, da habe ich mir gedacht, jetzt bist du Alkoholikerin.

Wer alleine säuft, ist Alkoholiker.

Ich glaube aber, dass ich zu dem Zeitpunkt schon recht abhängig war, weil – irgendwann war es so, dass ich jeden Abend getrunken habe. Eine Zeitlang habe ich mir noch Leute dazu eingeladen, damit ich nicht alleine getrunken habe.

Im Prinzip habe ich mich da schon beschissen.

Noch ein schlechtes Zeichen: Wenn man Nachbarn verachtet, weil sie am Sonntagnachmittag gemütlich bei Kaffee und Kuchen zusammensitzen.

Ich habe als Frau alleine das Haus gebaut, war allein erziehende Mutter, hab die Kohle dafür verdient mit einem total verrückten Job, den eigentlich kein Mensch aushält.

Ich habe Sonderkurierfahrten gemacht für eine Spedition. Da gibt es keine festen Arbeitszeiten, da fährst Du 40 Stunden am Stück durch, irgendwann siehst Du wieder dein Bett, dazwischen noch dein Kind, Hausaufgaben, Schule – ich konnte gar nicht mehr runterfahren.

Ich habe meine Nachbarn verachtet, wenn die am Sonntagnachmittag Kaffee getrunken haben. Da habe ich gedacht, du faule Sau, mach deinen Dreck in deinem Garten weg! Ich konnte überhaupt nicht mehr runterfahren.

Und um dieses Tempo zu halten, habe ich Alkohol gebraucht. Dann war ich auch gesundheitlich angeschlagen, ich hatte sehr viele Schmerzen. Schmerztablette mit Alkohol kombiniert hat mir dann auch einen Level gegeben, dass ich weitermachen konnte.

Aufhören war Schwäche. Hinsetzen, Kaffeetrinken – war unmöglich für mich.

Ich war total verrückt, ich glaube auch arbeitssüchtig, abhängig von allem, habe mich über Leistung definiert.

"Die ganze Welt war böse."

Dann kam der Moment, an dem Sie Ihre Abhängigkeit …?

Cornelia: Mir ging es ziemlich beschissen, die ganze Welt war böse, alles war schlecht, ich arme Sau und überhaupt.

Und dann habe ich eine Bekannte, die ist Krankenschwester in der Psychiatrie. Die sagt mir: Du hast Depressionen, das ist ja richtig schlimm. Du musst was machen!

Heute weiß ich: Ich war manisch-depressiv. Das kann man mit Alkohol eine ganze Zeitlang übertünchen, diese Gefühle …

Wer Glück hat, merkt, dass er am Ende ist.

Kann man das?

Cornelia: Ja, kann man. Eine Zeitlang geht das. Aber irgendwann geht es nicht mehr.

Und das war dann der Punkt, wo ich am Ende war.

Und dann hat sich für mich manifestiert: Die – keine Ahnung, wer die waren – nehmen dir dein Kind weg. Mein Kind ist mein Ein und Alles!

Das war für mich der Punkt, wo ich wusste, ich muss was tun. In meinen besoffenen Fantasien war mein Kind in der Gosse, im Kinderheim und ich irgendwo auf der Straße. Das war alles nur in meiner Fantasie. Real war gar nichts.

Das hält kein Mensch aus.

Am 28. Oktober 2004 hatte ich den ersten Termin beim Therapeuten.Und der hat mir knallhart gesagt, ich soll erst mal trocken werden, soll zu den Anonymen Alkoholikern gehen, in diesem Zustand kann er mich nicht therapieren.

"Wie ich meinen Job gemacht habe, weiß ich nicht mehr, keine Ahnung."

Ich bin da raus mit dem Ding, das ist ein riesengroßes Arschloch, der hat von mir doch überhaupt keine Ahnung, ich bin doch keine Alkoholikerin  und zu den Anonymen Alkoholikern gehe ich schon hundertmal nicht. Könnte mich ja einer kennen.

Dann kam eigentlich meine schlimmste Zeit. Da war ich dann wirklich dann schon rund um die Uhr, tagsüber, betrunken.

Wie ich meinen Job gemacht habe, weiß ich nicht mehr, keine Ahnung.

Und dann habe ich angefangen zu googlen. Und nachdem das Blaue Kreuz und der Kreuzbund immer meine Adresse und Kontonummer haben wollten, blieb ich letztendlich dann doch bei den Anonymen Alkoholikern hängen – aber immer noch nicht bereit, nach Würzburg in ein Meeting zu gehen.

Und da kommt dann eben das, was der Unterschied zu anderen ist: Es gibt Online-Meetings. Und die Anonymen Alkoholiker sind die einzigen, die ein top ausgebautes Online-Meetingnetz haben.

Der Black-Out. Nicht mehr wissen, wo man war und was man getan hat.

Dann kam Weihnachten, da weiß ich gar nicht mehr viel davon. Wo ich Silvester war, weiß ich bis heute nicht. Ich vermute daheim, weil ich besoffen war.

Und am 13. Januar habe ich dann endlich eine Mail an ein Online-Meeting abgeschickt.

Dann war ich noch sehr renitent, weil Alkoholikerin wollte ich immer noch keine sein. Ich wollte da irgendwo mal gucken, wie das so geht.

Irgendwo wollte ich eigentlich nur wieder normal trinken können, so wieder jeder normale Mensch. Ich hatte da sehr blauäugig nur sehr wenig Ahnung davon.

Und die haben mir dann gesagt, dass ich selbst entscheiden muss, ob ich Alkoholikerin bin oder nicht. Und ich konnte dann nach sechs Tagen mithilfe dieser Freunde aufhören.

"Ich habe mich alleine zu Hause trocken gezittert."

Nach sechs Tagen?

Caroline: Nach sechs Tagen. Ich habe mich alleine zu Hause trocken gezittert.

Ich weiß heute, dass das sehr gefährlich war. Mein Herz, ich weiß gar nicht, wo das überall war, mir ging’s richtig scheiße.

Es ist ja gefährlich, man kann sterben an so einem Entzug.

Ich habe mich im Prinzip an meinem Computer festgekrallt, habe gewartet, dass da einer schreibt und wieder und wieder und so weiter. Das war mein ganzer Halt. Mehr hatte ich nicht.

Aber nach zirka drei Wochen bin ich dann doch zum ersten Mal in die Bentheimstraße in ein Meeting vor Ort gegangen. Da ging ich dann viele Wochen jeden Abend hin.

Alkoholiker reden sich ihre Krankheit klein.

Wie war das bei Ihnen, Heiner?

Heiner: Ich habe gesoffen bis 1988, da war ich dann 37, und ich wusste, dass ich zu viel trinke. Das war mir schon klar. Aber ich dachte, warum nicht?

Die anderen kiffen, gehen in den Puff, du hast Examen bestanden, warst verheiratet, hast Kinder, Job läuft, verdienst Geld, das bisschen Alkohol müssen sie dir doch gönnen, die Leute.

Insbesondere die Ehefrau  war natürlich nicht amused gewesen über meine Sauferei.

Ohne Alkohol gleich nach dem Aufstehen gibt es kein Frühstück. Er könnte die Kaffeetasse nicht festhalten.

Schildern Sie uns, wie ein typischer Tag bei Ihnen abgelaufen ist?

Heiner: In der Endphase, in den letzten ein, zwei Jahren, hat sich ein Tag so abgespielt:

Ich wache früh auf, überlege, ist noch irgendwo in einem Versteck Alkohol? Weil: den musst Du trinken, damit du ruhig wirst.

Ohne Alkohol konnte ich nämlich nicht frühstücken, weil ich die Kaffeetasse nicht hochgebracht hätte.

Also wache ich früh auf, schau in meine Depots, ist noch was da?, dann trinke was, mach’s Frühstück und geh dann zur Arbeit.

Ist nichts da, verlasse ich, bevor die Frau und die Kinder aufstehen, sofort fluchtartig das Haus, bin dann in die Stadt, da gab es einen kleinen Edeka-Laden, den gibt es nicht mehr, dort gab es einen Korb vor der Theke, in dem waren lauter Flachmänner drin. Und da stand dann ein Schild: „Für Kenner und Genießer“. Da habe ich mir einen Flachmann geholt, der hat 2 Mark 49 gekostet.

Das Geld hatte ich abgezählt dabei, denn ich hätte ansonsten das Wechselgeld nicht entgegennehmen können.

Jeden zweiten Morgen kommt das trockene Kotzen.

Hab den Flachmann genommen, habe mich ins Auto gehockt, habe den Sitz etwas nach hinten und hab dann den Schnaps gegurgelt erst mal, denn ich habe irgendwo gelesen, dass der Alkohol im Rachen schneller ins Blut übergeht als im Magen.

Und habe gehofft, dass er drin bleibt, dass ich ihn nicht wieder rauskotze.

Denn das trockene Kotzen hatte ich jeden zweiten Morgen.

Nachdem es dann dringeblieben ist, bin ich zur Arbeit gefahren, da war ein Stehausschank, da bin ich dann hin hab‘ erst mal einen doppelten Korn getrunken, zwei Schorle sauer, und dann hatte ich langsam Betriebstemperatur.

Alkoholiker-Problem: Wie halte ich meinen Promille-Pegel hoch?

Und dann habe ich mich über den Tag gearbeitet, musste immer schauen, dass der Pegel nicht abfällt. Zwischendrin immer mal ein Bier, eine Schorle, ein Schnaps, je nachdem, was es gab.

Und abends war das Problem gewesen: Ich brauchte was, dass ich einschlafen kann.

Also musste ich wieder was mitnehmen nach Hause, dort verstecken, was trinken, dass ich einschlafen kann, aber nicht zu viel, dass morgen noch was da ist.

Und das war so der übliche Tagesablauf.

Das Schlimmste war immer das Wochenende gewesen. Da war ich nämlich unter Kontrolle, konnte nichts verstecken, konnte nicht ausbüchsen – während der Woche ging das ja, weil ich arbeiten ging.

Irgendwann hat meine Frau mal gesagt: So, jetzt reicht es! Schluss! Du bist vom Fach (Heiner ist Jurist, d. Red.), Du weißt: Mir gehört das Haus, mir gehören die Kinder.

Manchmal ist die Angst ein ausgezeichneter Ratgeber.

Und da habe ich gewusst, wenn ich nicht aufhöre und die verlässt mich, dann gehe ich finanziell in die Brüche. Dann lande ich im Straßengraben irgendwann. Und davor hatte ich Muffe.

Ich hatte Muffe, sozial abzustürzen.

Ich stamme aus finanziell äußerst bescheidenen Verhältnissen, ich weiß, was Armut ist, das habe ich in den 50er-Jahren richtig mitbekommen, und ich wollte um Gotteswillen nie mehr arm werden.

Da dachte ich: Was machst du? Der letzte Tag, wo ich gesoffen habe, das war der 29. Oktober 1988.

"Heiner, erzähl nicht so einen Scheiß! Du bist Alkoholiker."

Hab mich dann ins Bett gelegt – meine Frau hat schon gesehen, was los ist, als ich gekommen bin - und hab dann drei Tage den Entzug durchgezittert.

Nach drei Tagen war ich einigermaßen geländegängig, konnte wieder ungefähr sehen, der Schleier vor den Augen war weg.

Dann bin ich zu einem Studienfreund, einem Arzt, in die Praxis, hab ein bisschen rumgedruckst, da sagt der, komm, Heiner, erzähl nicht so einen Scheiß! Du bist Alkoholiker.

Anonyme Alkoholiker, Blaues Kreuz oder Kreuzbund? Das muss jeder für sich selbst entscheiden.

Was nun? Da sagt er: Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder Therapie oder Selbsthilfegruppe.

Dann habe ich in der Main-Post nachgeschaut, und dann habe ich gelesen: Blaues Kreuz. Dachte ich, du bist nicht gläubig, Blaues Kreuz, so ein Scheiß. Dann Kreuzbund. Dachte ich: Mensch, noch schlimmer!

Schon wieder ein Kreuz!

Dann habe ich Anonyme Alkoholiker gelesen. Habe da angerufen. Die haben gesagt, kommst heute Abend, 20 Uhr, damals noch in der Wolframstraße. Bin ich angetappt gekommen und habe mir angehört, was die so erzählen. Und seitdem bin ich bei AA, rückfallfrei. Kein Tropfen Alkohol mehr seitdem.

Wer trocken werden will, muss kapitulieren, ohne Wenn und Aber.  

Der erste Schritt der AA lautet: „Wir geben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern können.“ Wie kann ausgerechnet eine Kapitulation helfen?

Cornelia: Ich bin dem Alkohol gegenüber machtlos.

Heiner: Ich auch.

Cornelia: Wenn ich anfange zu trinken, dann hat er das Kommando. Ich kann nicht mehr aufhören.

Das ist das, was einen Alkoholiker von jemandem, der zu viel säuft, unterscheidet. Dieser Kontrollverlust.
 
Das heißt, Sie können dem Alkohol widerstehen, solange sie die Finger von ihm lassen?

Heiner: Es gibt ja genug Rückfälle. Es ist ja nicht so, dass alle rückfallfrei sind.

Es gibt genug, die schaffen es zwei, drei Jahre, dann saufen sie wieder ein halbes Jahr oder ein Jahr. Dann kommen sie wieder.

Also: Der Alkohol lockt immer.

Wer das erste Glas stehen lässt, bekommt kein Problem mit dem zehnten.

Cornelia: Der Alkohol ist eine legale Droge, die gibt es überall, die läuft mir überall über den Weg.

Deswegen heißt es auch: Ich lasse das erste Glas stehen.

Das habe ich am Anfang nicht kapiert. Das hat ein Freund ganz einfach übersetzt: Wenn dich der Zug überfährt, ist es auch nicht der zehnte Waggon, der dich überfährt, sondern die Lok.

Trinke ich nicht das erste Glas, muss ich kein zweites und kein zehntes trinken.

Ich habe nur eine Chance: Wenn ich den Alkohol gar nicht trinke. Es ist die einzige Genesungschance, die ich habe: die absolute Abstinenz.

Auch wenn du ein Wrack bist und lallst: Du bist nicht der einzige mit diesem Problem. Es ist ein Wahnsinnsgefühl, das zu wissen.

Ich sage, der Alkohol ist nur ein äußeres Symptom.

Dann kommen die ganzen Probleme untendrunter zum Vorschein, und an denen muss man dann arbeiten und das schafft man dann in der Gruppe, weil da sitzen die Leute, die die gleichen Probleme haben und die einen verstehen, nicht verachten.

Da fühlt man sich verstanden.

Für mich war das ein Wahnsinnsgefühl zu merken, ich bin nicht die einzige Frau unter der Sonne, die so beschissen säuft, die ihr Kind und alles aufs Spiel setzt, nur weil sie säuft und nicht aufhören kann.

Ich bin ein Macher-Typ und hatte keine Chance.
Ich habe alles hingekriegt, nur das mit dem Alkohol, das habe ich alleine nicht geschafft. Aber mit der Gruppe habe ich’s geschafft.
 
Die AA sagen, die Anonymität sei ihre „spirituelle Grundlage“, in den zwölf AA-Traditionen ist von einem „liebenden Gott“ die Rede und in zwölf Schritten des Genesungsprogramms taucht ebenfalls ein helfender Gott auf. Wie passt das zusammen mit Ihrem atheistischen Weltbild, Heinrich?

Cornelia: Es geht um Gott, wie wir ihn verstehen. Den kann jeder sich so bauen, wie er Lust hat. Nicht katholisch. Hat nichts mit der Kirche zu tun.

Da schafft einer alles: Studium und Job, er ernährt sich und seine Familie. Und kommt nicht klar mit einer Lappalie wie dem Alkohol.

Was bedeutet „spirituelle Grundlage“?
Cornelia: Spiritualität hat nichts mit Religion zu tun. Das ist einfach: Wir glauben daran, dass irgendetwas gibt, was größer ist als ich, und das kann für viele erst mal die Gruppe sein, die einem Halt gibt.
 
Heiner: Für mich war ein Problem gewesen, als ich noch gesoffen habe: Ich habe alles geschafft. Ich habe mein Examen geschafft, erstes Examen, zweites Examen, Kinder, Beruf, hat alles funktioniert.

Aber ich konnte mit dem Alkohol saufen nicht aufhören.

Und das war für mich nicht nachvollziehbar, dass ich mit so einer Lappalie wie Alkohol nicht klarkomme, wo ich alles andere, was vermeintlich viel stärker und viel schwieriger ist, geschafft habe.

Und dann bin ich in die AA gekommen. Seit ich mich mit denen unterhalte über den Alkoholismus und Alkoholprobleme – plötzlich funktioniert das.

Und das ist die Spiritualität. Wir erzählen, was wir erlebt haben, hören ähnliches oder vielleicht sogar ganz anderes, und das scheint zu helfen, aus welchen Gründen auch immer.

Die Anonymen Alkoholiker stauchen niemanden zusammen, der betrunken zum Meeting kommt. Wer während der Sitzung nachtanken will, darf das - vor der Tür.

Die AA sagen: Bei uns wird jeder Alkoholiker vorbehaltlos akzeptiert. Wie geht das, wo Alkohol Menschen so zerstört, dass sie sich selbst nicht akzeptieren können?

Cornelia: Das geht. Der darf einfach da sitzen. Der darf auch besoffen ins Meeting kommen. Nur trinken darf er am Tisch nicht.

Der darf auch rausgehen, darf seine Flasche vor der Tür deponieren und immer wieder rausgehen und nachladen, wenn er das braucht.

Heiner: Die einzige Voraussetzung zur Zugehörigkeit ist der ernsthafte Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören. 

Manche schaffen es halt nicht auf Anhieb, die brauchen länger, die trinken noch ein halbes Jahr, bis sie trocken werden können. Das akzeptieren wir. Dafür sind die AA da.

Anonyme Alkoholiker reden nicht übereinander. Jeder erzählt von sich. Und die anderen hören zu.

Und da wird nicht über einen geredet?

Cornelia: Nein!

Heiner: Nein! Nein! Ein jeder erzählt nur von sich selbst.

Cornelia: Es gibt auch keinen Dialog und kein Du und keine Ratschläge und keine Empfehlungen.

Ich erzähle nur von mir. Und derjenige, der am Tisch sitzt, hört sich das an und guckt, was er sich davon nehmen kann.

Das ist das Geheimnis der AA.

Und es redet immer nur einer und alle anderen hören zu. Und es gibt auch kein direktes Feedback darauf.

Das ist am Anfang sehr gewöhnungsbedürftig, besonders wenn man so diskussionsfreudig ist wie ich.

Die Anonymen Alkoholiker haben keine Mitglieder und keine Mitgliedsbeiträge. Sie sind Freunde. Wer Geld hat, schmeißt was in einen Hut.

Die AA lehnen Unterstützung von außen ab. Warum?

Cornelia: Es geht um Unabhängigkeit.

Heinrich: Es gibt keine Mitgliedsbeiträge, es gibt keine Mitgliedslisten, gar nichts. In Amerika heißt es Member (Mitglied, d. Red.), bei uns heißt es Freunde.

Es gibt einen eingetragenen Verein, aus rechtlichen Gründen, weil wir Mietverträge schließen.

Ich geh da hin, da steht ein Hut auf dem Tisch, und am Ende schmeißt jeder rein, wie er will und wie er kann, und damit finanzieren wir uns.
 
Zu wie vielen sind Sie?

Heiner: Das ist unterschiedlich. Manchmal sind wir fünf, manchmal 15, manchmal 20.

Ein anonymer Alkoholiker gibt sich öffentlich nie zu erkennen. So schützt er die AA, falls er rückfällig wird.

Und da kommt genug zusammen?

Heiner und Cornelia: Ja.
 
Selbst wenn Sie im Interview ihren vollen Namen nennen wollten, dürften sie es nicht. Warum nicht?

Cornelia: Diese Anonymität schützt die Allgemeinheit und AA vor mir.

Es gibt ja Leute, die werden irgendwann mal größenwahnsinnig und kriegen dann das Ego und werden Überflieger und machen Interviews und dann wird diese Person mit den AA identifiziert.

Wird der dann rückfällig, heißt es: AA taugt nichts.

Es soll auch dafür sorgen, dass wir alle gleich sind. Da gibt’s kein Oben und kein Unten. Die Gruppe ist das höchste Organ.

AA-Gruppen gibt es auf der ganzen Welt. Jeder kann hin, überall.

Aber die Gruppe agiert nach außen nicht als Gruppe.

Cornelia: Nein. Weil die Gruppe als Gruppe ja gar nicht existiert. Es ist ja jedes Mal anders.

Ich kann jeden Tag auf der ganzen Welt in diesen Raum hineingehen und bin zuhause und gehöre dazu. Jede Gruppe ist nie die gleiche wie letzte Woche.

Heiner: Wenn ich unterwegs bin, im Urlaub, oder zum Beispiel in Berlin, gehe ich hin.

Wer alkoholkrank ist, wird nicht mehr gesund. Für den, der trocken bleiben will, gibt es nur eines: die totale Abstinenz.

Heiner, Sie sind seit knapp 27 Jahren trocken und gehen immer noch hin. Warum? Reicht’s nicht irgendwann?
Heiner: Alkoholismus ist eine Krankheit, die kannst du zum Stillstand bringen, aber nie heilen.

Ich kann also nicht sagen, ich drehe das Rad rückwärts, ich bin nicht mehr Alkoholiker. Das hätte ich mir früher überlegen sollen.

Das heißt, ich bin immer rückfallgefährdet. Und damit ich die Rückfallgefahr minimiere, gehe ich hin.

Ich muss immer wieder hören, wie es den Freunden geht, die gerade gesoffen haben oder einen Rückfall haben. Das klingt schofel, wenn mich das aufbaut, wenn einer einen Rückfall hat.

Ich kenne keinen einzigen, der gesagt hat, Rückfall ist klasse, geil, wieder mal schlucken kann ich jedem empfehlen – ganz im Gegenteil. Da kommt jeder so klein mit Hut.

Die Glück gehabt haben, haben es bald wieder geschafft, die anderen haben ihren Rest auch noch versoffen.
Ich muss immer wieder damit konfrontiert werden: Das passiert, wenn du nicht aufpasst und das erste Glas trinkst.

Wer die Gruppe schwänzt, begibt sich in Gefahr.

Und wenn Sie am Abend unterwegs sind und mit Leuten zusammen sind. Das Trinken gehört ja fast überall dazu.

Cornelia: Ich trinke auch – Kaffee, Wasser, Cola, Saft.

Heiner: Ich habe da nie ein Problem.
 
Wie geht das? Kriegen Sie da keine lange Nase, wenn Sie den Alkohol riechen?

Cornelia: Nein. Und damit ich mir diesen Abstand erhalte, gehe ich in ein Meeting.

Dann erinnere ich mich ständig daran. Zu mir gehört das jetzt einfach dazu. Wenn ich zum Beispiel merke: Im Fernsehen kommt auf einmal ständig Alkoholwerbung und ich registriere die, denke ich: upps!, musst aufpassen.

Irgendwie bist du psychisch in Schräglage geraten, weil normal registriere ich die gar nicht.

Das sind so Zeichen. Und um die zu erkennen, gehe ich die Gruppe, weil die erzählen, dass es ihnen so ergangen ist.

Nicht jeder schafft es, trocken zu werden. Viele bringen sich mit Alkohol um.

Und das Wichtigste, das ich mir gemerkt habe: Wenn ich anfange, die Gruppe zu schwänzen und das nicht mehr ernst zu nehmen, dann ist die Gefahr groß, dass ich vergesse, dass ich Alkoholikerin bin, und dann rückt das erste Glas näher.

Dann kommt der Rückfall näher.

Und das höre ich aus den Geschichten von den Freunden, die zurückkommen aus dem Rückfall – wenn sie denn zurückkommen.

Wir beerdigen auch viele.

 
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