„Unsicherheit und Terrorangst – die unerhörte Macht der Verwundbarkeit“ heißt der Eröffnungsvortrag einer Veranstaltungsreihe der Universität Würzburg, die sich nicht nur an Studenten, sondern auch an interessierte Bürger richtet. In sechs Vorlesungen beleuchten Theologen und Humanwissenschaftler ab diesem Donnerstag das Thema Verwundbarkeit in all seinen Facetten: von der Verwundbarkeit bei Migration und Flucht bis hin zu Narzissmustendenzen in unserer Gesellschaft oder Machtspiralen im Gefängnis. Warum die Vorlesungen auch für Publikum interessant sind, erklärt die Leiterin der Forschungsgruppe Hildegund Keul, Professorin der Katholisch-Theologischen Fakultät anhand des Beispiels „Migration, Unsicherheit und Terrorangst“.
Frage: Migration, Flucht und Terrorangst: Wer ist Ihrer Meinung nach hier verwundbar?
Hildegund Keul: Wir sprechen von mehreren Verwundbarkeiten: Auf der einen Seite ist zum Beispiel die Gruppe der übers Mittelmeer fliehenden Menschen hoch verwundbar. Verwundbarkeit gibt es aber auch auf der anderen Seite bei uns in Europa. Viele Menschen fühlen sich bedroht. Wie reagieren wir und welche Möglichkeiten finden wir, um uns und unsere Gesellschaft zu schützen – möglichst ohne den Geflüchteten Gewalt anzutun?
Ist der Verwundbare automatisch der Schwächere?
Keul: Nein. Menschen, die sich verwundbar fühlen, wenden oft Gewalt an, um zu verhindern, dass die Verwundung tatsächlich passiert. Wir sprechen deshalb von der „Macht der Verwundbarkeit“.
Welche Folgen hat die eigene Verwundbarkeit?
Keul: In der Forschung unterscheiden wir zwischen Wunde und Verwundbarkeit. Bei der Verwundbarkeit frage ich: Wo könnte ich in Zukunft verwundet werden? Was kann ich tun, um dies zu verhindern? Wie kann ich mich, meine eigene Familie, meine Religion, meinen Staat, meine Gesellschaft davor schützen? Viele, die fürchten, verwundet zu werden, wenden „Herodes“-Strategien an: Sie verwunden lieber andere, als selbst verwundet zu werden – nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung.
Sie halten Angriff nicht für die beste Verteidigung?
Keul: Nicht immer. Nehmen wir als Beispiel die Verwundbarkeit in Beziehungen. Wenn man sich frisch verliebt, hat man das Bedürfnis, den geliebten Menschen zu beschützen. Beim Rosenkrieg ist genau das Gegenteil der Fall. Man kennt die Schwachstellen des Partners und geht zielgerichtet darauf los. Ein Rosenkrieg führt zu furchtbaren Verletzungen.
Wie sieht Ihrer Meinung nach die beste Strategie aus?
Keul: Wenn man sich verletzlich macht und sich öffnet, kann daraus neue Stärke entstehen. Wenn man bereit ist, das Leben anderer Menschen zu schützen und dafür die eigene Verwundbarkeit zu riskieren, kann sich daraus eine neue Lebensmacht entwickeln. So sieht die Lösung aus Sicht der christlichen Theologie aus: dass wir etwas wagen, in der österlichen Hoffnung, dass aus dem Wagnis neues Leben entsteht.
Doch wer sich öffnet, riskiert auch etwas. Spätestens seit dem Axt-Attentat in Würzburg wissen wir, dass unsere Gesellschaft verwundbarer geworden ist.
Keul: In einem unserer Projekte erforschen wir, wie Lehrer an Schulen mit der Terrorangst umgehen. Diplompsychologin Katharina Obens versucht herauszufinden, wie man dagegen resilient wird – beispielsweise, indem man sich anhand der Statistik bewusst macht, dass die Gefahr, in Deutschland beim Autofahren verletzt zu werden, wesentlich höher ist.
Was antworten Sie denjenigen, die lieber die Grenzen dicht machen wollen?
Keul: Wenn wir in Europa auf die weltweiten Migrationsbewegungen ausschließlich antworten, indem wir die Mauern abdichten, wird uns das irgendwann auf die Füße fallen. Menschen, die nicht reinkommen, werden aggressiv, weil sie auch leben wollen. Wenn wir nur auf Sicherungsstrategien setzen, kann der Schuss nach hinten losgehen.
Ein Beispiel, bitte!
Keul: Ein Beispiel ist der Absturz der German Wings-Maschine, bei dem sehr viele Schüler ums Leben kamen. Nach dem Anschlag auf das World Trade Center haben Fluggesellschaften ihre Sicherungsstrategien verstärkt, indem sie die Türen ihrer Cockpits dicht gemacht haben. Genau diese Maßnahme war es, die es dem Piloten unmöglich machte, den Absturz zu verhindern. Sicherung allein macht das Leben nicht sicherer.
Was schlagen Sie als Wissenschaftlerin vor?
Keul: In unserer Forschungsgruppe geht es um zwei Fragen: Wo ist es wichtig, dass ich mich und das Eigene schütze? Und wann ist es wichtig, dass ich Verwundbarkeit riskiere – ob in Beziehungen oder in gesellschaftlichen Prozessen. Die erste Frage wird im öffentlichen Dialog ständig gestellt, beispielsweise von politischen Parteien, von Demonstranten oder Versicherungen. Die zweite Frage ist aber genauso wichtig. Es ist die christliche Perspektive: Gott wird Mensch und macht sich dadurch verletzlich. Daraus erwächst neues Leben. Man muss sich öffnen, wenn man das Leben genießen und glücklich sein will.
Sie sehen das christliche Abendland nicht vom Zuzug vieler Muslime bedroht?
Keul: Die Geschichte zeigt uns ein anderes Beispiel: Im Hochmittelalter war der Islam immens wichtig dafür, dass sich im Christentum die Wissenschaften entwickeln konnten. Thomas von Aquin hat davon profitiert, dass Aristoteles über die islamische Tradition mit seinen Texten zur Philosophie bekannt geworden war. Ohne diesen Wissenstransfer wäre an Wissenschaft im christlichen Abendland kaum zu denken. Die Scholastik ist daraus entstanden. Wir sollten gesellschaftlich mehr darüber diskutieren, welche Vorteile wir davon haben, wenn wir uns öffnen.
Vorlesungen über menschliche Verwundbarkeit: Gäste willkommen
Die Würzburger Forschungsgruppe „Vulnerabilität, Sicherheit und Resilienz“ veranstaltet im Sommersemester eine Vorlesungsreihe über die menschliche Verwundbarkeit. Mit dabei sind die Katholisch-Theologische Fakultät, das Studienprogramm GSiK und die Domschule Würzburg.
Die Vorträge: 26. April: „Unsicherheit und Terrorangst“, 3. Mai: „Die Würzburger Ordensgründerin Antonia Werr (1813-68) und Vertrauensfragen in pädagogischen Beziehungen“, 17. Mai: „Gott im Knast. Machtvolle Spiralen der Verwundbarkeit“, 7. Juni: „Verwundbarkeiten – interkulturell und interreligiös“, 21. Juni: „Leistung, Narzissmus und Verwundbarkeit“, 5. Juli: „Migration und Flucht“.
Beginn ist jeweils um 19 Uhr. Gäste sind willkommen. Der Eintritt ist frei. Die Vorlesungen am 26. April, 3. und 17. Mai und 21. Juni finden in Hörsaal 317 der Neuen Universität am Sanderring, der Vortrag am 7. Juni im Alten IHK-Gebäude (Hörsaal 1) am Josef-Stangl-Platz 2 und die Vorlesung am 5. Juli im Burkardushaus Am Bruderhof 1 statt.