Autobiographie im Jahr 1952
Mein Vater errichtete einen Bau aus Sorge über mir, groß wie eine Werft.
Und eines Tages zog ich aus von dort und das, bevor ich fertig war.
Und er, er blieb zurück mit seiner großen, leeren Sorge.
Und meine Mutter – wie ein Baum am Strand war sie, wenn sie ihre Arme
ausgestreckt hatte nach mir.
Und im Jahr 31, da waren meine Hände fröhlich und klein.
Und im Jahr 41, da war es, daß sie lernten, ein Gewehr zu bedienen.
Und als ich eine erste Liebe erlebte,
da waren meine Gedanken wie ein Bündel farbiger Luftballone.
Und die weiße Hand des Mädchens hielt sie alle fest
an einem dünnen Faden – und danach ließ sie sie fliegen.
Und im Jahr 51 war die Bewegung meines Lebens
wie die Bewegung vieler Sklaven, die ein Schiff ruderten.
Und meines Vaters Gesicht war wie eine Laterne am Ende eines Zuges,
der sich entfernte.
Und meine Mutter schloß alle die vielen Wolken in ihren braunen Schrank.
Und ich ging meine Straße am Hügel hinauf,
während das zwanzigste Jahrhundert das Blut in meinen Adern war,
Blut, das herauskommen wollte in vielen Kriegen
und durch viele Öffnungen hindurch.
Das ist auch der Grund, weshalb es von innen an meinen Kopf pocht
und in Wellen voller Zorn zum Herzen gelangt.
Jetzt aber, im Frühling 52, sehe ich,
daß mehr Vögel zurückkamen, als im vergangenen Winter weggezogen waren.
Und ich gehe zurück, den Berg hinunter zu meinem Haus.
Und in meinem Zimmer treffe ich die Frau, deren Körper schwer ist
und angefüllt mit Zeit.
Jehuda Amichai (1955)
Der in Würzburg 1924 als Ludwig Pfeuffer geborene Jehuda Amichai hätte am 3. Mai 2024 seinen 100. Geburtstag gefeiert. 1936 nach Palästina ausgewandert, lebte Amichai bis zu seinem Tod 2000 in Jerusalem. Ihm zu Ehren veröffentlicht die Main-Post unter dem Motto "Amichai lesen!" in loser Folge einige seiner Gedichte in der Übersetzung von Karlheinz Müller.
Jehuda Amichai ist der weltweit bekannteste Dichter und Schriftsteller aus Würzburg. Sein Werk umfasst einen Roman, Theaterstücke, Hörspiele und über 1500 Gedichte. Er wurde mit dem Israel-Preis und dem Würzburger Kulturpreis ausgezeichnet – und war sogar mehrfach für den Nobelpreis nominiert. Die Stadt Würzburg vergibt im Herbst erstmals einen mit 15.000 Euro dotierten Jehuda-Amichai-Literaturpreis.
Foto: Petra Winkelhardt/Grafik: Main-Post
Die hier abgedruckten Übersetzungen sind dem Buch "Auf meinem Tisch liegt ein Stein. Festschrift zum 100. Geburtstag von Yehuda Amichai", die im Verlag Königshausen & Neumann erschienen ist (ISBN 978-3-8260-8769-1).
Zur Spenden-Plattform für ein geplantes Amichai-Denkmal in Würzburg gelangt man über den Link wuerzburg-liest.de/kontakt.