
Es gab Oktoberfestbier. Amerikanisches zwar, aber wenigstens die Bierkrüge stammten aus Würzburg, als sich ehemalige Schüler der Würzburg American High School (WAHS) jetzt in San Antonio im US-Bundesstaat Texas zu einer Wiedersehensfeier trafen. Vier Tage lang schwelgten mehrere Dutzend Männer und Frauen, die in den 60er Jahren die WAHS besuchten und von denen sich manche seit einem halben Jahrhundert nicht gesehen hatten, in Erinnerungen.
Ihre Väter hatten in der US-Army gedient, waren oft schon nach kurzer Zeit mit ihren Familien an einen anderen Einsatzort versetzt worden. Und doch waren sich beim Wiedersehen in Texas alle einig: Die Zeit in Würzburg hat sie geprägt, hat ihnen die Augen für die Vielfalt der Welt geöffnet.
Die emotionalen Tage im Marriott-Hotel von San Antonio standen unter dem Motto „A Gathering of Wolves“ – ein Treffen von Wölfen. Wegen der schönen Alliteration nannten sich die Sportteams der Schule früher „Würzburg Wolves“. Der Name ist kleben geblieben, heute heißen alle früheren WAHS-Schüler so. Zur „Reunion“ hatten die über 60-Jährigen bergeweise Erinnerungsstücke mitgebracht: vergilbte Fotos und alte Jahrbücher, Bierkrüge von Brauereien, die längst nicht mehr existieren („Würzburger Bürgerbräu“), dazu Seppelhüte mit Edelweiß und T-Shirts mit exotischen deutschen Aufdrucken – und natürlich die Geschichten von damals, die fast ausschließlich positive Geschichten sind. Denn: Die High School am Hubland war ein Stück Amerika, aber gleichzeitig ein Stück jener Welt außerhalb der USA, die zahlreiche Amerikaner nie zur Kenntnis nehmen und deren Erleben viele WAHS-Schüler zu weltoffenen Menschen gemacht hat.
Vier ehemalige Würzburger haben ihre Erinnerungen mit uns geteilt: die Buchprüferin Robbie Paul, 64 Jahre alt aus El Paso (Texas), die in der Lincoln Housing Area in der oberen Rottendorfer Straße wohnte; der 69-jährige pensionierte Anzeigenverkäufer Joe Milroy aus Rushland (Pennsylvania), der täglich aus Schweinfurt nach Würzburg gebracht wurde; der ehemalige Stadtplaner Compton Vester, 68 Jahre alt aus dem kalifornischen Santa Cruz, der ebenfalls in Schweinfurt lebte, und der Radiologe Chuck Mitchell, 65 Jahre alt, der damals in Bad Kissingen wohnte und heute in Jacksonville (Florida) lebt.
Beim Gespräch stellt sich heraus, dass Chuck Mitchell einer der besten Röntgen-Kenner der Welt ist. Tausende Erinnerungsstücke an den Entdecker der X-Strahlen hat er gesammelt, darunter handgeschriebene Briefe Röntgens, in denen der passionierte Jäger beispielsweise von Jagden im Spessart berichtet. „Als Schüler in Würzburg hatte ich keine Ahnung von Röntgen. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich mich einmal so intensiv mit ihm beschäftigen würde“, erzählt Mitchell. Als er im Jahr 2005 mit seiner Frau auf einer Flusskreuzfahrt auch nach Würzburg kam, zog es ihn daher nicht etwa in die Residenz, sondern in Röntgens Entdecker-Labor am Röntgenring.
Die großen Entfernungen, die die Schüler der High School damals morgens und abends zurücklegen mussten, bedeutete Aufstehen um 5.30 Uhr und Heimkommen erst bei Dunkelheit. „Die Fahrt mit dem Army-Bus nach Bad Kissingen dauerte eineinhalb Stunden“, erinnert sich Chuck Mitchell an seine Würzburger Schulzeit. „Wenn ich nach der Schule noch Sport trieb, fuhr kein Bus mehr. Dann wurde ich zum Bahnhof gebracht und benutzte den Zug.“ Der Vorteil: „Mein Abendessen bestand dann aus einem Bratwurstbrötchen. Das schmeckte lecker!“
Eine geradezu legendäre Gestalt war in den 60er Jahren der exzentrische Chemielehrer George Parker, dessen Name im Hotel und bei Ausflügen in die Umgebung von San Antonio immer wieder auftaucht und für Gelächter sorgt. Compton Vester: „Er hatte einen Schnurrbart wie Hitler; wir nannten ihn deshalb Hitlers kleinen dicken Bruder.“ George Parker würzte seine Chemiestunden mit gefährlichen Experimenten, bei denen schon mal eine Fensterscheibe zu Bruch ging oder eine Schülerin in Tränen ausbrach. Vester trocken: „Heute würde ein Lehrer mit so etwas nicht durchkommen.“
„Army brats“, Soldatenkinder, nennen sich die Söhne und Töchter von Angehörigen der US-Streitkräfte überall auf der Welt. „Wir hatten eine relativ kleine Schule, jeder kannte jeden und wir hielten prima zusammen“, sagt Joe Milroy und ergänzt erklärend: „Schließlich waren wir ja alle ,army brats', Jeder wusste, wie es dem anderen geht.“
Dass die ständigen Umzüge auch ihre Schattenseiten hatten, lässt als Einziger Compton Vester durchblicken: „Ich besuchte sieben Schulen nacheinander. Hatte man einen guten Freund gefunden, wurde man auch schon wieder getrennt. Das hat nicht gerade dazu beigetragen, stabile Beziehungen aufzubauen, was ja in diesem Alter sehr wichtig ist.“ Und was ist von der Zeit in Würzburg sonst noch hängen geblieben?
In Joe Milroys Gedächtnis hat sich besonders der Anblick der Festung eingebrannt: „Wir sahen sie jeden Morgen, wenn wir aus Schweinfurt kommend nach Würzburg hinunterfuhren. Etwas ganz Besonderes war auch, dass wir unseren Ball im Abschlussjahr 1962 im Hotel Steinburg feierten. Damals wussten wir natürlich nicht, dass das Gebäude gar nicht so alt ist wie es aussieht.“
Überhaupt die Festung. „Ein paar Mal schwänzten wir die Schule und gingen hoch zur Burg, tranken ein Bier und genossen die Aussicht“, berichtete Compton Vester. „Komischerweise wurden wir nie bestraft.“
Amerikaner dürfen erst im Alter von 21 Jahren Alkohol trinken. Da war natürlich die Freiheit, die in dieser Hinsicht in Würzburg herrschte, ein häufiges Gesprächsthema. „Ich liebte die Verkaufsstände auf dem Marktplatz“, erzählt etwa Robbie Paul, die das Treffen in San Antonio organisiert hatte. „Als ich 15 Jahre alt war, kaufte ich mir dort Schokolade mit Alkoholfüllung. Das war der erste Alkohol meines Lebens.“
An Kontakte mit Würzburgern können sich viele erinnern, doch seien diese oft oberflächlich gewesen, da die meisten Schüler ja nicht in der Domstadt wohnten. Ein Deutschlehrer sorgte immerhin dafür, dass die Jugendlichen im Gespräch mit Einheimischen anwendeten, was sie gelernt hatten. Joe Milroy: „Er ging mit uns in die Stadt und wir mussten Passanten auf Deutsch fragen, wie spät es ist. Die Würzburger dachten wahrscheinlich, dass wir Amerikaner keine Uhren haben.“
Der begeisterte Sportler Milroy spielte im Fußballteam der High School, das gegen gleichaltrige amerikanische Mannschaften antrat. Manchmal stand ein Match gegen Deutsche an. Dann, so der 69-Jährige, „mussten die immer ein paar Jahre jünger sein; sie waren einfach so unendlich viel besser.“
Seine sportlichen Aktivitäten konfrontierten Chuck Mitchell mit einen düsteren Kapitel der deutschen Geschichte und brachten ihn in erhebliche Gefahr. 1964 fuhr er mit dem WAHS-Basketballteam zu einem Turnier nach Berlin. Mitchell: „Am Checkpoint Charlie ging ich zur Mauer und holte mir ein Stück Beton, das abgeplatzt war. Ich wusste, dass ich etwas Gefährliches und Verbotenes tat, aber es passierte nichts.“ Das Mauerstück besitzt der 65-Jährige noch immer.
Inzwischen sind die Ex-Würzburger wieder zuhause. Mitgenommen haben sie die lilafarbene Reunion-Tasche mit aufgedruckter Festung und das offizielle T-Shirt. Lila war die Farbe der Schule, die noch heute das Gebäude am Hubland prägt. Für das T-Shirt hat eine Grafikerin ein besonderes Logo entworfen. Auch darauf ist die Festung zu sehen, doch überschäumende Bierkrüge ersetzen die Türme.
Was auch sonst?