Wer sich mit Ärzten unterhält und wer Biografien über Betroffene liest, der ahnt, dass sehr viel richtig sein muss an der Einschätzung, die landläufig über die Krankheit Alzheimer-Demenz vorherrscht: Der Mensch löst sich auf.
Die Gehirnerkrankung fördert das schleichende Vergessen, bis das Ich irgendwann nur noch aus dem Körper besteht, der Hülle für ein großes Nichts. Es sind Schicksale wie das von Gerd Müller, die die Krankheit ins Bewusstsein vieler Menschen holen.
Der 69-Jährige war in den 60er und 70er Jahren der Toregarant für den FC Bayern München und die Nationalmannschaft, er wurde zu einem Synonym für Stürmer. Seine Tore und seine Titel sind unerreicht, aber, so scheint es, sein Lebensglück hat Gerd Müller auf dem Fußballfeld aufgebraucht. Der scheue Mann geriet in tiefe Krisen, hatte ein veritables Alkoholproblem – und fand nur dank seiner Frau Uschi und Freunden beim FC Bayern München wieder in die Bahn. Seit Februar jedoch ist bei ihm die Alzheimer-Demenz so fortgeschritten, dass er in Betreuung lebt.
Doch das Schicksal von Gerd Müller ist kein Einzelfall. Rund 1,5 Millionen Demenzkranke leben nach Angaben des jüngsten Weltalzheimer-Berichts derzeit allein in Deutschland, sofern kein Durchbruch in der Therapie gelingt, sagen Experten für das Jahr 2050 einen Anstieg hierzulande auf drei Millionen Patienten voraus. Zwischen 55 bis 70 Prozent aller Demenzpatienten leiden an der Alzheimer-Demenz, wie sie auch der ehemalige Fußballstar hat. Es handelt sich gewissermaßen um eine Stoffwechselkrankheit des Gehirns.
Dabei entsteht unter anderem ein Defizit des Botenstoffes Actylcholin, ein Neurotransmitter, der Reize von einer Nervenzelle zur nächsten weitergibt und wichtig ist für viele Prozesse wie Erinnern, Denken, Orientieren. Letztlich sterben die Nervenzellen ab, und das Wesen des Menschen verändert sich so sehr, dass er irgendwann betreut werden muss.
Weltweit wird über die Krankheit geforscht – auch am Universitätsklinikum Würzburg läuft seit 2011 eine viel beachtete Studie über die Frühdiagnostik. Das Besondere: Sie ist derzeit die einzige, die auch eine elektrophysiologische Untersuchung beinhaltet. 604 Probanden aus dem Raum Würzburg im Alter zwischen 70 und 75 Jahren werden dabei über einen Zeitraum von zehn Jahren an insgesamt drei Tagen allgemeinkörperlich, psychiatrisch, neurologisch und eben elektrophysiologisch untersucht.
„Die Studie ist sehr gut angelaufen“, sagt der Würzburger Demenzforscher Dr. Thomas Polak, Oberarzt und Leiter der Arbeitsgruppe Frühdiagnose von Demenzen an der Uniklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Die Teilnehmer haben alle ihren ersten Diagnosetag hinter sich. Bei 58 Probanden wurde festgestellt, dass sie sich in einer möglichen sogenannten „Übergangsform“ befinden: sie zeigen leichte kognitive Beeinträchtigungen und bei neuropsychologischen Tests Abweichungen von der Norm.
Aus diesen Übergangsformen kann sich eine Demenz entwickeln, muss es aber nicht. „Nun sind wir in der sehr wichtigen Phase der Folgeuntersuchung“ – sprich, die Probanden müssen zum zweiten Mal erscheinen. Dass möglichst viele wiederkommen, „ist essenziell für die Studie“, so Polak.
Die Forscher stellen sich im Rahmen der Studie vor allem die Frage: Lassen ihre sanften Diagnoseformen verlässliche Rückschlüsse auf eine Demenzerkrankung zu? Bislang ist die Erkennung aufwendig und mit Nebenwirkungen verbunden, unter anderem werden dazu Nervenwasseruntersuchungen gemacht. Bei der sogenannten „Vogel-Studie“ in Würzburg, sie wird finanziert von der Vogel-Stiftung, geht es um einfachere Techniken – wie etwa die einer Reizung.
Dabei, so Thomas Polak, werde eine bestimmte Stelle des Ohres durch Strom gereizt. Dieser sensorische Reiz durchfließt auf dem Weg ins Gehirn jene tiefen Hirnzonen, die bei Alzheimerpatienten im frühen Stadium betroffen sind. Für die Studie ist das Experiment spannend: Hatten jene Probanden, die nach zehn Jahren eine Demenz entwickelt haben werden, Verzögerungen beim sensorischen Reiz schon bei der ersten Untersuchung, wäre das ein klares Signal.
Im Gesamtquerschnitt der Studienteilnehmer hat sich auch herausgestellt, dass jene, die bereits eine Verzögerung in der Reizfortleitung haben, in speziellen Tests schlechter abschnitten – beispielsweise gelang es ihnen schlechter, eine komplexe Figur nachzuzeichnen, sagt der Koordinator der Studie, Thomas Polak. In einem zweiten Test geht es um geteilte Aufmerksamkeit, der Teilnehmer muss akustische und optische Merkmale erkennen und bei einer bestimmten Folge eine Taste drücken. Auch hier: Wer verzögerte Signallatenzen einer Erkrankung aufweist, macht mehr Fehler.
Ein Medikament gegen Alzheimer gibt es nicht, die Krankheit lässt sich nur verlangsamen. Bekannt indes sind Risikofaktoren wie Bluthochdruck, hohe Cholesterinwerte, hoher Blutzucker, Rauchen und zu viel Alkohol. Sie fördern nicht nur Krankheiten wie Schlaganfall oder Herzinfarkt, sondern eben auch Alzheimer. „Eine gesunde Ernährung und Bewegung senken das Risiko“, sagt Oberarzt Polak. Eine gute Möglichkeit sei zum Beispiel Tanzen, weil hier in einer Tätigkeit mehrere koordinative Fähigkeiten ausgeübt werden müssen.
Dass das Thema auch durch Filme wie „Honig im Kopf“ mit Til Schweiger und Dieter Hallervorden ins Bewusstsein der Bevölkerung geholt wird, findet Thomas Polak gut. Er hat das Gefühl, Demenz sei auf dem besten Wege, eine Akzeptanz in der Gesellschaft zu finden. Anders als etwa die Depression: „Das ist leider immer noch ein Tabuthema.“ Nicht zuletzt durch prominente Fälle wie Rudi Assauer, Margaret Thatcher, Gunter Sachs, Ronald Reagan oder nun Gerd Müller werde die Demenz auf breiter Basis wahrgenommen und diskutiert. Im Fall des ehemaligen Bayern-Stürmers hätten sich Familie und Verein bislang „vorbildlich“ verhalten, so Polak.
Auch dass viele Medien, die von der Erkrankung Müllers wussten, lange nicht darüber berichtet hätten, „ist aller Ehren wert. Denn man darf über die Erkrankung der Betroffenen natürlich erst dann öffentlich berichten, wenn diese das auch wollen.“ Für einen Patienten sei eine vertraute Umgebung extrem wichtig. Das sagt auch Prof. Dr. Hans Förstl, Müllers behandelnder Arzt in München.
Er hatte sich auf der Homepage des Vereins geäußert: „Mit der großartigen Unterstützung seiner Ehefrau und der vorbildlichen Loyalität des FC Bayern München ist es über viele Jahre perfekt gelungen, Gerd Müller ins Vereinsleben zu integrieren.“ Seit Februar werde Gerd Müller nun professionell betreut.
Thomas Polak von der Uniklinik Würzburg versprüht im Kampf gegen das Vergessen einen kleinen Hauch von Hoffnung, auch wenn der für Gerd Müller wohl zu spät kommen wird. Weltweit werde sehr intensiv an der Krankheit geforscht, „wir verstehen sie immer mehr“, sagt der Experte. Mit der „Vogel-Studie“ ist das Uniklinikum Würzburg dabei, einen wichtigen Beitrag zu liefern.
Eine frühe Diagnose, so der Demenz-Experte, sei für Patienten wichtig, „denn spätestens nach einem solchen Befund sollten sie sehr gesund leben“, der Verlauf könne dadurch verlangsamt werden. Aber auch die Forschung profitiert von frühzeitigen Erkennungsmethoden. Derzeit seien viele Substanzen in der Erprobung, neue Therapieverfahren seien denkbar. „Irgendwann wird es auch ein Medikament geben, das Alzheimer stoppt“, sagt Polak. „Ich weiß nicht, ob das in fünf oder 30 Jahren der Fall sein wird. Aber sind Gehirnzellen erst mal betroffen, sind sie meist unwiederbringlich verloren.“
Alois Alzheimer
Der Mediziner aus dem unterfränkischen Marktbreit gilt als Entdecker der nach ihm benannten Krankheit, einer Form der Demenz. Er wurde am 14. Juni 1864 in dem Dorf bei Ochsenfurt geboren, später studierte er Medizin in Würzburg. Dort promovierte Alois Alzheimer 1887, 1904 habilitierte er in München. An seinen Arbeitsstellen in Frankfurt, Heidelberg und München erforschte er das Krankheitsbild, das er „Krankheit des Vergessens“ nannte. Bei einer Fachtagung 1906 in Tübingen stellte es Alois Alzheimer anhand seiner Patientin Auguste D. schließlich als eigenständige Krankheit dar. Noch heute basiert die pathologische Diagnose der Krankheit auf denselben Untersuchungsmethoden, die Alzheimer 1906 erstmals anwandte. 1915 starb der Mediziner im Alter von 51 Jahren in Breslau an den Folgen einer Infektion.
In Marktbreit existiert seit 1995 eine Gedenkstätte in Alzheimers Geburtshaus in der Ochsenfurter Straße, die nach Anmeldung bei der Tourist-Information unter Tel. (09332) 59 15 97 besichtigt werden kann. Ausgestellt wird auch sein Mikroskop mit Objektträgern und Hirnschnitten der Auguste D.