Es ist ein ganz normaler Frühherbsttag. Im Musikpavillon des Stadtparks gibt der 35-jährige Dirigent Hans Sauter mit der Würzburger Regimentskapelle ein Standkonzert. Offiziere der „Neuner“ und der „Elfer“, zweier Würzburger Regimenter, promenieren makellos gekleidet auf den Kieswegen.
Der 28-jährige Soldat Adelbert Gümbel aus Grombühl hat beim Frühstück den Würzburger „General-Anzeiger“ gelesen, den es hier kostenlos gibt. Jetzt ist er auf dem Weg ins Büro. Am Marktplatz kommt er am kleinen Laden einer fast 80-jährigen Würzburger Marketenderin vorbei, die er vom Sehen kennt; früher hat die Frau in Gastwirtschaften der Domstadt allabendlich Blumen verkauft. Die Musik der Kapelle weht herüber; oft hat der 28-Jährige ihre Konzerte im Hofgarten besucht. Hans Sauter und seine Musiker sind am Main eine überaus beliebte Institution.
Ein ganz normaler Tag? Die so beschaulich wirkende Szene spielt sich zu Beginn des Monats September 1915 ab; an diesem Morgen vor 100 Jahren geschehen noch ganz andere Dinge: In geschlossener Formation marschieren Truppen durch die Stadt in Richtung der nahen Front, Pferde ziehen schwere Feldküchen hinter sich hier, der Einschlag von Granaten und das heisere Bellen von Maschinengewehren stört die schmissige Musik, im Lazarett in der Stadtpfarrkirche am Marktplatz kämpfen verstümmelte Soldaten mit dem Tod; französische, belgische und englische Gefangene werden vorbeigeführt.
Die Stadt, in der die Würzburger Kapelle ihre Märsche spielt, ist Comines in Nordfrankreich, direkt an der belgischen Grenze gelegen. Nur 15 Kilometer entfernt wird seit einem Jahr erbittert um das inzwischen völlig zerstörte Ypern gekämpft. Einige Monate zuvor haben die bayerischen Belagerer, zu denen zeitweise auch Adolf Hitler gehört hat, erstmals Giftgas eingesetzt, um den Widerstand der belgischen, englischen und französischen Verteidiger der Stadt Ypern zu brechen – erfolglos.
Im Staatsarchiv in der Würzburger Residenz liegen die Kriegsaufzeichnungen des Soldaten Adelbert Gümbel, der ein Jahr lang in Comines stationiert war und in einem Tagebuch und in Briefen an seine 21-jährige Frau Maria die Kriegswirklichkeit detailliert beschrieben hat. Gümbel ist Schreiber des Divisionsarztes, er arbeitet in der sogenannten Etappe, muss also nicht an der Front kämpfen. Was dort geschieht, ahnt er, als ihn ein Militärarzt, ebenfalls aus Würzburg stammend, wegen Typhusverdachts in eines der Lazarette von Comines einweist. „Sanitätsautos fahren Beschossene an das Lazaretttor“, schreibt Gümbel seiner Frau am 15. Juni 1915. „Der Verschlag öffnet sich und die Leute werden hereingetragen. Kopfschüsse, Bauchschüsse, Zerschmetterung von Gliedmaßen usw. – Bilder des Jammers und des Elends.“
„Seit November sind hier 500 Leute gestorben“, fährt Gümbel fort. „Tagtäglich sterben Leute, und das Totenhäuschen wird nie leer.“ Es ist verboten, solche Nachrichten zu verbreiten, die nicht dazu geeignet sind, in der Heimat die Kriegsbegeisterung zu steigern. Gümbel tut es trotzdem. Am 17. Juni folgen weitere grausame Details: „Ein Sergeant wurde eingeliefert, dem hatte eine Handgranate den linken Oberarm zerschmettert und ein Stück Knochen herausgerissen, ferner seine rechte Hand abgeschlagen und das linke Auge schwer verletzt. Er liegt verbunden im Bett und weiß noch gar nicht, was er für Verletzungen hat. Der Mann ist schrecklich verstümmelt. Einem Unteroffizier, der noch bei ihm war, zerriss die Handgranate den Kopf in tausend Stücke.“ Comines hat etwa 15 000 Einwohner. Die Seidenfabriken sind stillgelegt und dienen den bayerischen Soldaten als Unterkunft, in den Kirchen sind Lazarette eingerichtet, Händler, einige davon aus Würzburg, sind gekommen und haben Geschäfte für deutsche Lebensmittel, Militärartikel, deutsche Biere und Weine eröffnet.
Unterdessen leiden die Einheimischen. „Die Armut der Bevölkerung blickt sehr durch“, schreibt Gümbel. „Viele Kinder gehen von Haus zu Haus, um Brot zu betteln. Auf der Straße steht alle 15 bis 20 Schritte ein kleiner Knirps oder eine arme Frau und verkauft Streichhölzer, Zigarren oder Zigaretten, damit sie etwas Geld zusammenbekommen fürs tägliche Leben.“
Es gibt kein Vieh mehr zum Schlachten für die Zivilbevölkerung. Das bayerische Militär hat alle Tiere requiriert. In dieser Phase des Krieges leben manche Soldaten in der Etappe noch ein unbeschwertes Leben: Adelbert Gümbel scherzt („nur streng in Ehren“, wie er in seinem Tagebuch betont) mit der jungen Französin Martha, deren Mann gegen die Deutschen kämpft und in deren Haus Kameraden untergebracht sind. Er bringt ihr Blumen mit, was ihren Schwiegereltern ganz und gar nicht gefällt. Als er später nach Würzburg zurückkehrt, hat er ein Foto Marthas dabei, das heute ebenfalls im Würzburger Staatsarchiv liegt.
Ein besonders krasses Beispiel für diese scheinbare Normalität war der Heilige Abend des Jahres 1914. Zu diesem Zeitpunkt sind die bayerischen Soldaten noch optimistisch, dass der Krieg bald gewonnen ist. Dass noch fast vier Jahre weitergekämpft wird, dass noch Millionen Männer auf beiden Seiten fallen, kann sich keiner vorstellen. In Comines feiert an diesem 24. Dezember 1914 Adelbert Gümbel dreimal Weihnachten. Erst mit dem Divisionsstab in einer Brauerei mit großem Christbaum, deutschem Bier und vielen Geschenken aus der Heimat, dann privat mit Kameraden im Quartier – seine Frau hat einen winzigen Christbaum mit der Feldpost geschickt – und zuletzt mit anderen Sanitätsunteroffizieren in einem Restaurant.
„Wir tranken Wein, Bier, Cognac, Rum, Arak, Punsch und Champagner“, steht in einem Brief an seine Frau. „Eine ganze Wirtschaft vertranken wir. Wir haben alle fest, sehr fest getrunken. Und warum auch nicht? Es kostete ja nichts!“
Als Gümbel um 2 Uhr morgens zu seiner Unterkunft zurückkehrt, wird er Zeuge eines seltsamen Ereignisses: „In einer Wirtschaft am Marktplatz scholl gerade der Klang einer Musik durch die Nacht. Es war das Lied ,Püppchen, du bist mein Augenstern', und auf dem Marktplatz selbst – ich traute meinen Augen kaum – tanzten die Posten, die hier aufgestellt sind.“ Am 5. Februar 1915 besucht der bayerische König Ludwig III. in Comines seine Truppen. Adelbert Gümbel hat ihn erst ein halbes Jahr zuvor gesehen. Am 28. Juni 1914 stand er auf dem Würzburger Residenzplatz und jubelte dem Herrscher zu, der anlässlich der Feiern zur 100-jährigen Zugehörigkeit Unterfrankens zu Bayern gekommen war; an jenem Tag wurde der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand ermordet, der König kürzte seinen Besuch ab, und die Kriegsvorbereitungen begannen.
Jetzt will Ludwig sehen, wie seine Soldaten Krieg führen. Außerhalb von Comines ist an einem Kanal eine Demonstration für ihn vorbereitet. Gümbel steigt auf ein Schleusenwärterhaus und beobachtet das grausige Geschehen. „Majestät und Gefolge waren sichtlich befriedigt“, notiert er später in sein Tagebuch. Vor allem der Flammenwerfer scheint es dem König angetan zu haben: „Ein Mann trug ein Gefäß auf dem Rücken, das dem einer Weinbergsspritze glich. Ein Zweiter hatte den davon ausgehenden Schlauch mit Mundstück in Händen. Der erste Mann pumpte nun, und bald drang ein etwa 20 Meter langer Rauch- und Feuerstrahl heraus, Flammen und tiefschwarzen, gewaltigen Rauch entwickelnd.“
Wenig später kommen neue Soldaten nach Comines, „alle aus Würzburg und Umgebung“. Gümbel weiß, was ihnen bevorsteht: „Rotbackig und wohlgenährt sehen sie aus“, schreibt er am 25. März 1915 seiner Frau. „Doch das alles schwindet hier im Krieg, und wenn sie eine Zeit lang hier sind, gleicht einer dem anderen.“
Bis zum Ende des Krieges wird es den Belagerern nicht gelingen, die Stadt Ypern zu erobern. Im September 1915 ziehen die bayerischen Truppen aus Comines ab, das immer häufiger und immer präziser beschossen wird. Die Gegner wissen inzwischen genau, wo sich bayerische Kommandobehörden und Truppenunterkünfte befinden.
Viele Gebäude liegen in Trümmern, darunter das Rathaus und der benachbarte Glockenturm. Nach dem Krieg werden einige Häuser originalgetreu wiederaufgebaut. Der Glockenturm ist heute, zusammen mit ähnlichen Bauwerken in anderen nordfranzösischen und flämischen Städten, UNESCO-Weltkulturerbe.
Adelbert Gümbel erkrankt Ende 1915 erneut; er darf zu seiner Familie zurückkehren und arbeitet in verschiedenen Würzburger Lazaretten. Anfang 1918 trifft er eines Abends die alte Marketenderin aus Comines auf dem Nachhauseweg im Ringpark. Sie berichtet, dass sie wegen ihres hohen Alters von den Militärbehörden gezwungen wurde, ihren Laden aufzugeben. „Ich ruhe aber nicht, und wenn ich bis zum König gehe. Ich muss zu meinen Soldaten, zu meinen Jungens“, sagt sie Gümbel.
Der notiert in seinem Tagebuch: „Ihr Wunsch blieb aber unerfüllt und schließlich fand sie sich auch damit ab und verkauft nun wieder allabendlich Rosen und Nelken in Würzburg.“