
Die Besprechung, die Michael Meisner am 20. Januar 1951 auf Seite 3 der von ihm seit 1949 herausgegebene Main-Post veröffentlichte, sprühte vor Begeisterung. Der Streifen "Die Sünderin" sei "endlich ein Film, mit dem die deutsche Produktion von der Regie, der Darstellung und der Photographie her den Anschluss an die Spitzenerzeugnisse des Auslands herstellt". Die 25-jährige Hauptdarstellerin Hildegard Knef habe sich "in die erste Reihe der wirklichen Könnerinnen hineingespielt".

Der Würzburger Zeitungsherausgeber war zwei Tage zuvor bei der von Beifallsstürmen begleiteten Filmpremiere in Frankfurt gewesen und hatte anschließend mit Hildegard Knef, Regisseur Willi Forst und Aufnahmeleiter Heinz Fiebig gefeiert. "Im Laufe dieser Premierenfeier zu viert versprach ich Hildegard Knef, eine Kritik über den Film zu schreiben", schrieb Meisner später in seinen Erinnerungen. Er hielt sein Versprechen - mit ungeahnten Folgen.
Würzburger Bischof höchst entsetzt, Zeitung abgekanzelt
Beim Würzburger Bischof Julius Döpfner stieß Meisners euphorische Besprechung auf Entsetzen. Das Entsetzen war so groß, dass Döpfner eine Erklärung verfasste, die er von allen Kanzeln der Diözese verlesen ließ. Kein Katholik dürfe hinfort die Main-Post lesen, die solche Artikel veröffentliche, hörten die Gläubigen.
"Die Sünderin" entwickelte sich zum ersten Skandalfilm der Nachkriegszeit. Das Melodram behandelte Themen wie Prostitution, Selbstmord und Sterbehilfe und in einer wenige Sekunden langen Szene war die entblößte Brust von Hildegard Knef zu sehen, die das Malermodell Marina spielt.
Rund sieben Millionen Westdeutsche strömten in die Kinos, die meisten wahrscheinlich wegen der kurzen Nacktszene und nicht wegen der angerissenen Probleme wie der Erblindung von Knefs Geliebtem, dem sie die letzten Qualen erspart, indem sie ihn vergiftet und dem sie dann freiwillig in den Tod folgt.
Bei der rauschenden Premierenfeier dabei
Die Anwesenheit des Herausgebers einer bayerischen Regionalzeitung bei einer rauschenden Premierenfeier in Frankfurt mag überraschen. Doch Meisner, von Beruf eigentlich Anwalt und von 1949 bis 1949 auf Wunsch der US-Amerikaner Landrat von Würzburg, hatte ein Herz für die Kunst und schrieb unter Pseudonym selbst Theaterstücke und Filmdrehbücher. Dem "Kulturverband Mainfranken", der in der Turnhalle der Würzburger Lehrerbildungsanstalt am Wittelsbacherplatz ab 1946 Theater spielte, hatte er als Präsident vorgestanden und dabei den Intendanten des Theaters, den Berliner Heinz Fiebig, kennengelernt.
Fiebig hatte bei der UFA mehrere Dutzend Filme als Produktionschef betreut, wirkte jetzt bei der "Sünderin" als Aufnahmeleiter und lud Meisner zu Premiere im Kino "Turm-Palast" in Frankfurt ein.
Regisseur hatte Schnitte und Forderungen der FSK abgelehnt
Dass es überhaupt eine Premiere gab, war nicht selbstverständlich. Noch drei Tage vor der Uraufführung hatte die "Freiwillige Selbstkontrolle" (FSK) einige Schnitte an der "Sünderin" verlangt. Der Regisseur lehnte das jedoch ab, und als die FSK den Film schließlich ohne Schnitte ab 18 Jahren freigab, traten die Kirchenvertreter vorübergehend aus der Wiesbadener Einrichtung aus.

Der Protest entzündete sich vor allem an der Darstellung der Prostitution und der Tötung auf Verlangen, die in der Schlussszene gezeigt wird und die manche an die Euthanasiepropaganda des "Dritten Reiches" erinnerte. Unterschwellig spielte aber wohl auch die kurze Nacktszene eine Rolle. Die Katholische Kirche suchte damals die "Meinungsführerschaft und ihren Rang im öffentlichen Raum zu behaupten", heißt es in der dreibändigen "Geschichte der Stadt Würzburg". Der Kampf gegen Filme, die den Moralvorstellungen der Kirche widersprachen und gegen Kinos, die sie zeigten, war daher nur logisch.
Die Würzburger mussten auf die Premiere warten
In der Domstadt kam der Streifen wochenlang nicht auf die Leinwand – wahrscheinlich weil die Kinobesitzer von Döpfners Einschreiten erschreckt waren und den offenen Konflikt mit der Kirche scheuten. Alles was die Bürger wussten, hatte in der Zeitung gestanden.
In der Main-Post bestritt am 22. Januar Kulturredakteur Anton Mayer, dass "Die Sünderin", wie von den Gegnern behauptet, "entsittlichende Wirkung" habe. Mayer wörtlich: "Dieses Mädchen Marina geht durch die tiefsten Tiefen menschlicher Verworfenheit, und doch wird einmal in ihrer Seele die schlummernde Kraft zum Guten geweckt, als sie dem vom Tod gezeichneten Maler begegnet und sich zum Helfen aufgerufen fühlt – sie wird ein Mensch."

Ende Januar berichtete die Main-Post, dass in Osnabrück rund 20 Personen eine Vorstellung sprengen wollten und "Pfui, Schweinerei, aufhören!" brüllten. Als der Kinobesitzer die Besucher fragte, ob der Film weiter vorgeführt werden solle, antwortete das Publikum fast einstimmig "Weiterspielen!" und "Die Störer rausschmeißen!" Das geschah denn auch. Der Streifen lief vor ausverkauftem Haus in Osnabrück wie auch in anderen Städten wochenlang.
Anfang Februar kam es zu weiteren Protesten in einem Bielefelder Kino und nach Ausschreitungen in einem Koblenzer Lichtspieltheater wurde die Vorführung der "Sünderin" dort sogar zeitweilig verboten.
Das Passage-Kino traute sich
Erst über einen Monat nach der Premiere, am 23. Februar 1951, getraute sich der Besitzer des Würzburger Passage-Kino in der Herrenstraße (heute Liga-Bank), den Streifen in sein Programm aufzunehmen. "Wer den Film sieht, wird zutiefst beeindruckt sein und bleiben", stand in der Anzeige, zusammen mit einem Zitat aus Michael Meisners lobender Besprechung. Wochentags viermal konnten sich die Würzburger einen Eindruck von der "Sünderin" machen, am Wochenende zusätzlich in einer Spätvorstellung.

Nun, da "Die Sünderin" in Würzburg lief, veröffentlichte Meisner am 28. Februar einen zweiten Artikel, der den Film ein weiteres Mal energisch verteidigte. Inzwischen habe "eine große Anzahl von Menschen sich selbst ein Urteil gebildet", schrieb er. Wer sich einen Anreiz für etwaige niedere Instinkte erwartet habe, "wird nicht auf seine Rechnung gekommen sein". Meisner zitierte eine Befragung junger Zuschauer, die übereinstimmend angaben, keinerlei Neigung zu haben, "in einem solchen Milieu sich zu bewegen", also Prostituierte zu werden oder Selbstmord zu begehen.
Bischof ruft zum Boykott von Kinos auf - und zum Eintritt in die "Filmliga"
Am Donnerstag, 8. März, lief "Die Sünderin" nach nur zwei Wochen letztmals im Passage-Kino und wurde vom "Doppelten Lottchen" Erich Kästners abgelöst. Die Auseinandersetzung mit der Katholischen Kirche war damit jedoch noch nicht beendet. Kurz darauf forderte Bischof Julius Döpfner die Gläubigen seines Bistums zum Eintritt in die "Filmliga" auf. Die Mitglieder mussten sich verpflichten, "keinen Film zu besuchen, der christlichem Glauben oder christlicher Sitte widerspricht" beziehungsweise jene Kinos zu boykottieren, die solche Filme spielen.

Wie schon beim Aufruf, keine Main-Post mehr zu lesen, versuchte die Kirche erneut, wirtschaftlichen Druck auszuüben. Rund zwei Millionen Westdeutsche, darunter viele in Unterfranken, traten der "Filmliga" bei.
"Dass der Zölibat . . . sicherlich an seiner Verkrampfung die Schuld trug"
Der Streit zwischen Michael Meisner und Julius Döpfner, die sich ursprünglich gut verstanden hatten, ging also zunächst weiter. Erst viel später söhnten sich die beiden aus. Der 1913 geborene Döpfner gab im Gespräch mit Meisner zu, im Jahr 1951 "eben noch sehr jung gewesen" zu sein. Meisner lieferte in seinen Memoiren eine Begründung für das Verhalten des Bischofs: "Für mich persönlich stand fest, dass bei Döpfner, der ein vollblütiges Mannsbild war, der Zölibat, den er wie alles in seinem Leben ernst nahm, sicherlich an seiner Verkrampfung die Schuld trug."
Der Film, der damals Deutschland bewegte, ist heute für alle Zuschauer ab zwölf Jahren freigegeben. Die Main-Post hatte übrigens, wie Meisner in seinen Lebenserinnerungen schrieb, kaum unter den bischöflichen Boykottaufruf gelitten: "Interessant ist es festzustellen, dass diese ungerechte Verurteilung an der Auflage unserer Main-Post keinen erwähnenswerten Schaden anrichtete."