
Das Avantgarde-Musical "Alice" rechnet streng mit dem fantasierenden Mathematiker Louis Carroll ab, auch wenn der von einem kleinen Mädchen nur träumt bzw. albträumt. In "Alice" werden Carrolls Kinderbücher und seine Motivation, sie zu verfassen, gespielt, gesungen und getanzt.
Klingt kompliziert, ist aber so verständlich wie Lieder der US-amerikanischen Mehrfachbegabung Tom Waits und seiner Frau Katheleen Brennan. Die beiden schrieben dieses Avantgarde-Musical für die Erstaufführung 1992 unter Regie von Robert Wilson. Jetzt hat sich das Würzburger Theater am Neunerplatz nachträglich zum eigenen 35. Geburtstag eine Inszenierung geschenkt – mit neun Darstellern (für über 40 Figuren!), fünf Musikern und aller verfügbaren Bühnentechnik.
Profitänzerin choreografierte
Die Riesenproduktion funktioniert glänzend, die zwei einstündigen Szenenfolgen laufen geschmeidig, lupenrein, aber keineswegs steril. Die Körperbewegungen choreografierte eine Profitänzerin – nicht so mechanisch abgehackt wie Wilson es mag, aber künstlich genug und meist so komisch wie die verzerrten Artikulationsweisen. Deutsche Sprechszenen wechseln mit den 13 englischsprachigen Songs. Unterschiedlich kräftige Singstimmen bilden ein genau ausgewogenes Ensemble; einige Lieder wurden extra deshalb in eine neue Tonart transponiert (musikalische Leitung Tobias Debold). Irrwitzige Kostüme zu Hauf (Ute Friedrich), ein genial funktionales Bühnenbild (Sven Höhnke, auch Licht und Ton), das dem Neunerplatz eine ungeahnte Weite gibt – all diesen immensen Aufwand sieht und hört man nur, wenn man drüber nachdenkt.
Aber dazu ist die Geschichte zu packend und auch viel rührender als der kalte Surrealismus der Carroll-Bücher. Sie beginnt bei Carrolls besessenem Fotografieren – Motiv: die kleine Alice. Sie endet damit, dass Carrolls literarisches Selbst- und Wunschporträt, der Weiße Ritter, und die Kunstfigur Alice einen Bann aufheben, wobei sie ihrem fragwürdigen Bewunderer als Schlusswort etwas offenbar recht Konsternierendes ins Ohr flüstert.
Souveräne Regie
Diese unhörbaren Schlussworte dachte sich Erhard Drexler aus, der zusammen mit Hella Huber inszenierte. Durch den pandemiebedingt verschobenen Theatergeburtstag konnte er sich nun drei Jahre lang intensiv mit dem Stoff auseinandersetzen. Dass er Carrolls Kosmen in- und auswendig kennt, kommt seiner souveränen Regie zugute.
Ihm half aber auch das Ensemble. Mit einigen arbeitet Drexler seit Jahrzehnten zusammen, so Bruder Hermann und Frau Charlotte Emigholz. Immer gern gesehen auch der große Jörg Ewert (als Carroll), die weiblichen Erwachsenen-Hauptrollen gibt äußerst präsent Anne Hansen, die ihre leibliche Tochter Johanna unter anderem mit dem Krocketschläger bedroht. Mit im Ensemble und alle wichtig: Claudia Bienek, Susanne Debold, Annette Patrzek und Andreas Neumann.
"Alice" ist kein Kinderstück – außer für Kinder, die am Theater alles lieben und bestaunen und sich an bunter Bewegung und irre schönen Klängen erfreuen können. Für Freunde von Tom Waits’ Musik ist diese Gelegenheit ein Muss. Und Musical-Fans dürfte es interessieren, was hinterm Mainstream liegt.
Das Musical ist ab 13.11. wieder auf dem Spielplan, Infos unter www.neunerplatz.de
