
Das Genre der Würzburg-Krimis bekommt Gesellschaft: Ein neu erschienener Ärztinnenroman mit „Lokalkolorit“ wendet sich ans historisch interessierte weibliche Lesepublikum. Schauplatz des auf zwei Bände angelegten Werkes ist das Juliusspital, das Mitte des 19. Jahrhunderts der Berliner Charité oder den Wiener Kliniken mindestens ebenbürtig war.
Erzählstoff für fesselnde Filme wie die vielbeachtete Fernsehfolge über die Charité bietet das Würzburger Spital um diese Zeit allemal, waren doch mit Virchow, Koelliker und Scanzoni bedeutende Mediziner dort tätig, die zahlreiche Studenten anlockten und bedeutende wissenschaftliche Entdeckungen machten.
Die beiden Autorinnen, die Zwillingsschwestern Claudia und Nadja Beinert (Jg. 1978) haben sich intensiv in die Würzburger Lokalgeschichte der Zeit eingearbeitet, um die stilechte Kulisse für ihren historischen Roman vorzubereiten und um sich ins „historische Personal“, das neben den fiktiven Hauptpersonen leibhaftig auftritt, hineindenken zu können.
Bankierstochter wird aus der Familie verstoßen
Zum Inhalt: Bankierstochter Viviana, ungewollt wie unstandesgemäß von einem Steinmetz schwanger und von der auf Reputation bedachten Familie verstoßen, verdingt sich als Apothekenmagd im Juliusspital, kommt mit den dortigen Koryphäen der Medizin um Rudolph Virchow in Berührung und möchte Medizin studieren, was damals natürlich nicht möglich war.
Die doppelte Perspektive aus Bankhaus- und Ärztesicht ermöglicht eine breit gefächerte Schilderung der Würzburger Verhältnisse um die Jahrhundertmitte. Den Medizinhistoriker freut’s, wenn die faszinierende Wissenschafts- und Sozialgeschichte der Epoche quasi im Vorbeigehen lebensnah und unterhaltsam vermittelt wird. Natürlich müssen Klischees bedient, „Rollen“ besetzt und Erwartungshaltungen der Romanleserin erfüllt werden, doch sind die historischen Ärztepersönlichkeiten, soweit das die Quellen eben hergeben, durchaus realistisch charakterisiert.
Diskussion ums Frauenstudium wird im Roman zeitlich vorverlegt
Unbehagen bereitet dem Lokalhistoriker dagegen, dass die in Würzburg um 1890 geführte, spannende und gut dokumentierte Diskussion ums Frauenstudium gewissermaßen Virchow zuliebe Jahrzehnte vorverlegt werden muss, was zu Maskeraden, konspirativen Treffen in den Kasematten, Spionen, dramatischen Verhaftungen und einem finalen Maskenball-Showdown im Juliusspitalhof nötigt – alles für Würzburg arg unwahrscheinlich, wenig historisch und in deutlichem Kontrast zur sonst so sorgfältigen lokalgeschichtlichen Recherche.
Zumal man etwa mit Josepha oder Charlotte von Siebold, die in Hessen über die Geburtshilfe erfolgreich ihren individuellen Weg in die Medizin fanden, als Vorbilder der „Ärztin aus Leidenschaft“ ihren Traum durchaus realistisch hätte erfüllen können.
Spannender und unterhaltsamer Lesestoff
Aber vielleicht ist das zu schulmeisterlich gedacht: Die allgemein interessierte Leserin auf der Suche nach spannender, emotionaler Romanlektüre wird – und darf – sich natürlich daran weniger stören und mehr an der Fabulierlust und den drastisch-dramatischen Wendungen der facettenreich erzählten Familiengeschichte mit ihren Verwicklungen, Verquickungen und unverhofften Wendungen ergötzen.
Wer mit klassischen Vorabendserien vertraut ist, wird medizinische Fachbegriffe verstehen oder einfach überlesen und über Anachronismen gelassen hinwegsehen. Und dann darf auch die Frauenbewegung in Würzburg früher aktiv werden, um die durchsetzungsstarke Viviana als Pionierin der Emanzipation zum revolutionären Gegenstück der wissenschaftlichen Revolution Virchows zu machen.
Amüsant zu lesen sind die natürlich stark überzeichneten, aber in sich stimmigen Charakterschilderungen der fiktiven Hauptpersonen und die teils burlesken Szenen in Bankhaus und Spital. Die „Ärztin aus Leidenschaft‘ bietet auf 572 Seiten spannenden und unterhaltsamen Lesestoff.
Das Taschenbuch ist bei Knaur erschienen und für 9,99 Euro im Buchhandel erhältlich. Der Folgeband, der zur Zeit des Physikers Wilhelm Conrad Röntgen spielt, ist für August angekündigt.