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WÜRZBURG
50 Jahre Johanniter: „Mein erster Nachtdienst war der schlimmste“
50 Jahre Johanniter: „Mein erster Nachtdienst war der schlimmste“
Manfred Schweidler
 |  aktualisiert: 11.12.2019 14:50 Uhr

Mit vier Jahrzehnten Erfahrung sieht Peter Graf genau: Die Patientin, die sein Kollege und er in den Rettungswagen schieben, hat Angst. „Wie alt sind Sie?,“ fragt er. „71“, antwortet zitternd die alte Frau, während der Wagen mit Blaulicht und Martinshorn losfährt.

Peter Graf, ein kräftiger Kerl mit weiß werdendem Bart über dem weißen Kittel der Johanniter, beugt sich lächelnd über sie: „Bis 70 wird man alt, ab 70 wird man wieder jung.“ Kein toller Scherz, aber er wirkt. Die Frau lächelt, fühlt sich nicht mehr ganz so elend.

Die Szene sagt viel über den Notfallhelfer Graf. In 40 Jahren auf dem Rettungswagen hat er viel Blut gesehen, unzählige Schmerzensschreie gehört und Gerüche in der Nase gehabt, auf die er gerne verzichtet hätte. Aber er ist nicht zynisch geworden, sondern impft jungen Kollegen ein: „Humor ist die beste Hilfe.“

Peter Graf ist fast von Beginn an bei den Johannitern. So etwas wie der gute Geist der Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH) in Unterfranken – der dienstälteste Veteran des Rettungsdienstes. Wenn die Johanniter am Wochenende 50-jähriges Bestehen feiern, würdigen sie damit die Arbeit von Frauen und Männern wie Graf: nicht zimperlich, sondern zupackend, unter dem Motto „aus Liebe zum Leben“.

Graf war bei Massenunfällen und hat Schnittwunden versorgt, hilflos in brennende Häuser starren müssen und Schwerverletzte aus Autowracks gezogen. Er gehört noch zu der Generation, die 1971 lieber zum Katastrophenschutz ging als zur Bundeswehr. Das hieß damals: zehn Jahre ehrenamtliche Tätigkeit beispielsweise bei den gerade sechs Jahre zuvor gegründeten Johannitern.

Männer wie er schwebten dem Ehepaar Ilse und Edmund Geißler aus Reichenberg vor, als es 1965 den Ortsverband der noch unbekannten Johanniter-Unfallhilfe gründeten. Das sollte sich schnell ändern. Denn von Beginn an führten sie die Ausbildung zur Schwesternhelferin durch und starteten das Angebot von Erste-Hilfe-Kursen für die Bevölkerung.

Die ersten Kurse fanden im Wohnzimmer statt, heute stehen für die unterschiedlichsten Kurse moderne Lehrsäle beim Regionalverband in der Waltherstraße zur Verfügung. Und Peter Graf erinnert sich schmunzelnd, wie sie in den ersten Jahren nur mit einer Notfalltasche mit Mullbinden, Pflaster und Riechstäbchen zu Unfällen fuhren, sich einen Überblick verschafften und Patienten so schnell wie möglich in die Klinik brachten. „Da gab es noch keinen Ultraschall oder ein CT“, wir mussten uns da selber helfen“, knurrt er.

In den ersten Jahren fuhren sie noch auf gut Glück los. Als sie bekannter wurden, informierte die Polizei auch schon mal, wo sie gebraucht wurden. „Und als dann die Notärzte dazukamen, saßen wir bereits fest im Sattel.“ Heute fahren Rettungsassistenten, die Graf mitausgebildet hat, im Rettungsdienst in drei Acht-Stunden-Schichten. „Als wir anfingen, hatten wir Zwölf-Stunden-Schichten, sieben Tage lang – und dann eine Woche frei.

“ Peter Graf, der nicht weit von der Rettungswache nahe der Missionsärztlichen Klinik wohnt, sprang auch ein, wenn einmal ein Fahrer fehlte – ein Engagement, das seine Frau zu der Frage veranlasste, ob er mit ihr oder der JUH verheiratet sei, erinnert er sich schmunzelnd.

Der gebürtige Rimparer wechselte 1976 hauptberuflich zur JUH, damals war man da zu zweit, mit zehn ehrenamtlichen Helfern. Heute engagieren sich bei den Johannitern unterfrankenweit über 1200 Menschen – darunter 700 in ihrer Freizeit – an den fünf Standorten Aschaffenburg, Bad Kissingen, Miltenberg, Schweinfurt und Würzburg.

„Mein erster Nachtdienst war der schlimmste.“ Noch nach 40 Jahren erinnert sich Graf: Ein Manta-Fahrer hatte einem Fußgänger den Arm abgefahren. Der 17-jährige Sanitäter versuchte, den Patienten vorschriftsmäßig zu bergen – und schlug sich an einem Armknochen gleich ein Stück Zahn aus. Er war schockiert, aber er lernte, nicht nur Patienten richtig anzupacken, sondern auch, das Leid, das er sah, nicht in sich reinzufressen.

„Wir mussten uns von der Seele her noch selbst helfen, heute gibt es dafür zum Glück Notfallseelsorger.“ Seit 15 Jahren gibt er als „Praxis-Anleiter“ seine Erfahrung an junge Kollegen weiter, zeigt ihnen, wie man eine Spritze aufzieht oder ein EKG liest. Der wichtigste Rat bei einem Unfall mit mehreren Verletzten sei, kühlen Kopf zu bewahren: „Du musst zu denen, die nicht mehr schreien. Die brauchen am dringendsten Hilfe“, sagt er und rät dem Nachwuchs, die Erfahrungen zu teilen: „Sucht euch einen und erzählt es ihm. Das macht es leichter, du hältst den Job sonst nicht aus.“

Dankbarkeit? „Gab es früher viel“, sagt er. Heute sei schon ein Dankeschön selten. Zornig wie ein Junger kann er werden, wenn er – wie vor vier Wochen – einen Patienten mit Blaulicht von Aschaffenburg nach Würzburg verlegt. Graf ist mit Blaulicht auf der Autobahn unterwegs, als sich ein schneller BMW frech hinter ihn drängt und mit Lichthupe auffordert, die Überholspur frei zu machen.

Ein anderes Mal ist er mit einem Organ für eine Transplantation unterwegs und gerät in einen Stau: Auf dem Standstreifen wäre er mit seiner überlebensnotwendigen „Ware“ (mit Erlaubnis der Polizei) vorangekommen. Aber dort hat gerade ein Wohnmobilfahrer seine Campingstühle ausgepackt, um den Stau auszusitzen. „Eine Viertelstunde musste ich mit dem diskutieren, ehe er mir Platz machte.“

Graf hat in Tagebüchern akribisch jeden seiner Einsätze eingetragen, jedes Jahr ein Buch voller Geschichten. Er musste nie ein Busunglück erleben, aber er hat 35 Kinder mit zur Welt gebracht, erzählt er stolz. Drei Dienste noch – dann geht er offiziell in Rente: „Dann habe ich Zeit für meine Enkel“, hofft er.

Und wenn ihn „seine“ Johanniter anrufen, weil Not am Mann ist und er ja um die Ecke wohnt? Er zögert kurz: „Rettungswagen fahre ich nicht mehr“, versichert er – aber vielleicht mal den Notarzt-Zubringer? „Mal schauen, was das Herz sagt.“


50 Jahre Johanniter

Im Jahr 1965 wurde in Reichenberg (Lkr. Würzburg) der erste Standort der Johanniter-Unfall-Hilfe in Unterfranken gegründet. Das 50-jährige Bestehen wird an diesem Freitag, 18. Juni, um 10 Uhr unter der Schirmherrschaft von Landtagspräsidentin Barbara Stamm gefeiert. Zunächst ist ein Gottesdienst in der Würzburger St. Johannis-Kirche, es folgt ein Festakt im Fürstensaal der Residenz. Am Samstag, 19. Juni, sind Aktionen in der Würzburger Innenstadt geplant.

Heute engagieren sich in Unterfranken bei den Johannitern über 1200 Menschen an den fünf Standorten Aschaffenburg, Bad Kissingen, Miltenberg, Schweinfurt und Würzburg.

 
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