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WÜRZBURG/SUHL
18. Oktober 1989: Revolution in Würzburgs Partnerstadt Suhl
18. Oktober 1989: Vor 20 Jahren standen die Bürger in Suhl, der Würzburger Partnerstadt, auf. In einem Konzertsaal und in einer Kirche wurde eine brisante Resolution verlesen
Erste Massendemonstration in Suhl am 4. November 1989.
Foto: ARCHIVFOTO CHRISTOPH TRAUTNER | Erste Massendemonstration in Suhl am 4. November 1989.
Von unserem Redaktionsmitglied Roland Flade
 |  aktualisiert: 19.10.2009 11:28 Uhr

Auf eine verkaufstechnische Revolution bereiteten sich die Würzburger am 18. Oktober 1989, einem Mittwoch, vor. Am nächsten Tag würden die Geschäfte beim sogenannten „Dienstleistungsabend“ zum dritten mal in der Nachkriegsgeschichte bis 20.30 Uhr offen sein.

Der Stadtrat beschloss an diesem Mittwoch den Bau einer Sportanlage in der Feggrube für 15,8 Millionen Mark, und in der Leserbriefspalte der Main-Post bekriegten sich Freunde und Gegner von Jürgen Weber.

Der hatte gerade verkündet, dass er bei der OB-Wahl im März gegen seine Parteifreundin Barbara Stamm antreten würde.

Geschichte wurde an diesem Mittwoch aber vor allem in der DDR geschrieben. Das Zentralkomitee der SED setzte Erich Honecker ab, und in Suhl, der thüringischen Partnerstadt, kam die Revolution in Gang, die drei Wochen später zum Fall der Mauer führte.

Mehr als 1500 Menschen hatten seit Beginn des Jahres Suhl und dem umliegenden Bezirk verlassen, doch die SED klammerte auch im kleinsten Bezirk der DDR verzweifelt an der Macht.

Während am Vormittag des 18. Oktober das Zentralkomitee noch über die Zukunft von Staats- und Parteichefs Honecker beriet, kamen in Suhl die Mitglieder des Staatlichen Sinfonieorchesters zu einer denkwürdigen Sitzung zusammen.

Ein kleines Grüppchen von Musikern um den 38-jährigen Bratschisten Harald Casper war fest entschlossen, endlich auch in Suhl den Protest gegen das SED-Regime in die Öffentlichkeit zu tragen. An diesem Abend, nach einer Aufführung von Beethovens sechster Sinfonie im „Kulturhaus 7. Oktober“, wollten sie eine Resolution verlesen. Jetzt galt es, die Mehrheit der Musiker auf den Plan einzuschwören.

„Plötzlich fingen die Menschen das Sprechen an. Da lief es mir eiskalt den Rücken 'runter.“

Siegfried Geissler, Bürgerrechtler in Würzburgs Partnerstadt Suhl

„Wir mussten die Leute aufrütteln“, erinnert sich Caspar an die dramatischen Stunden. „In anderen Städten wurde schon demonstriert, aber in Suhl war noch nichts passiert.“

Damals leitete er die Musiker-Versammlung: „Ein Zufall; der Boss war nicht da.“ Einziger Tagesordnungspunkt: die Resolution. Sie enthielt jene Forderungen, die auch anderswo schon auf dem Tisch lagen: freie Wahlen, Trennung von Partei und Staat, Abschaffung der Reisebeschränkungen.

Aber die Suhler gingen noch einen Schritt weiter. „Unsere Resolution war mit das Härteste, was zu dem Zeitpunkt auf dem Markt war“, sagt Harald Casper. „Wir haben zum ersten Mal den Vergleich mit China gezogen.“ Die SED sollte nicht, wie es die chinesischen Kommunisten im Juni nach den Protesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking getan hatten, mit gewaltsamer Unterdrückung reagieren.

Die große Mehrheit der Musiker stimmte dem Text zu. Einer, wohl ein Stasi-Spitzel, informierte sofort die übergeordneten Stellen. Ein Krisenstab des Rates des Bezirks kam zusammen – gerade zu der Stunde, in der bekannt gegeben wurde, dass Erich Honecker „zurückgetreten“ und durch Egon Krenz ersetzt worden war.

Die Suhler Genossen blieben beinhart. Auf keinem Fall würden sie dem aufrührerischen Treiben der Sinfoniker tatenlos zusehen.

Das Konzert begann. In der Pause – inzwischen hatte sich Egon Krenz in einer Fernsehansprache an das Volk gewandt und Fehler der Staats- und Parteiführung zugegeben – mussten die Musiker hinter die Bühne.

Der Bratschist hat noch Details der folgenden Ereignisse parat: „Wir wurden bedroht, dass wir die Resolution nicht verlesen sollen. Ansonsten würden wir mit allen staatlichen Maßnahmen zu rechnen haben.“ Doch die Sinfoniker ließen sich nicht umstimmen.

Szenenwechsel. In der protestantischen Suhler Hauptkirche hatten sich an diesem Abend des 18. Oktober rund 1500 Menschen versammelt. Der 52-jährige Superintendent Erhard Kretschmann hatte das Gotteshaus für diese erste ausgesprochen politische Versammlung zur Verfügung gestellt.

Kretschmann ahnte damals nicht, dass er wegen seines jahrelangen Engagements in der kirchlichen Friedensbewegung auf der Liste jener „Staatsfeinde“ stand, die im Fall eines energischen Eingreifens der DDR-Führung in ein Internierungslager eingewiesen werden sollten.

Dieses Schicksal drohte...
 

...auch einem weiteren Besucher dem Hauptkirche, dem 60-jährigen freischaffenden Komponisten Siegfried Geissler. Von 1965 bis 1980 hatte er als Chefdirigent das Suhler Orchester geleitet. 40 „inoffizielle Mitarbeiter“ der Stasi waren auf ihn angesetzt. Und sie hatten jede Menge belastendes Material zusammengetragen, vier Aktenordner voll.

Dass die Machtverhältnisse in der DDR „totalitär“ seien, hatten Spitzel aus Gesprächen Geisslers mit Freunden zitiert, dass es „keine persönliche Freiheit“ gebe.

An diesem Abend in der Hauptkirche begannen sich die Suhler frei zu äußern, ohne Angst vor der immer noch allmächtigen Obrigkeit. Während die Nachricht von der Ablösung Erich Honeckers als Top-Meldung in der „Aktuellen Kamera“ lief, berichteten sie in der Kirche von ihren Träumen und Wünschen.

Für Siegfried Geissler ein bewegender Moment: „Plötzlich fingen die Menschen das Sprechen an. Da ist es mir eiskalt den Rücken 'runtergelaufen.“

Noch jemand saß in der Suhler Hauptkirche: Harald Caspers Frau Kristina. Sie wusste, was ihr Mann und das Orchester vorhatten. In der Konzertpause schickte sie einen Kurier ins Kulturhaus. Seine Frage: „Lest Ihr die Resolution vor?“ Die klare Antwort: „Ja.“

So kam es, dass in derselben Minute, in der eine Musikerin nach Konzertende nach vorne trat, um die mutigen Forderungen der Sinfoniker vorlesen, sich Kristina Casper in der Hauptkirche erhob, um den Text ebenfalls bekannt zu machen. So erfuhren nicht nur einige hundert Konzertbesucher von dem Papier, sondern weitere 1500 Menschen. Noch in derselben Nacht wurde die Resolution tausendfach vervielfältigt.

Harald Casper über die Lage im „Kulturhaus 7. Oktober“: „Als die Kollegin mit dem Lesen anfing, riefen 20 oder 30 Leute im Saal 'Aufhören!‘. Die waren von der Stasi kurzfristig reinbeordert worden.“ Doch die Stimmung kippte schnell: „Bei jedem Punkt, der vorgetragen wurde, klatschten mehr Leute. Auf einmal stand fast der ganze Saal.“

Das war die Generalprobe für die Revolution in Suhl. Am 4. November gingen über 20 000 Menschen bei der ersten Großdemonstration in der Partnerstadt auf die Straße. Beantragt hatte sie Erhard Kretschmann, der auch die verschiedenen oppositionellen Bestrebungen koordinierte und dem Neuen Forum Gastrecht für große Treffen in der Hauptkirche gewährte.

Zufällig besuchte der grüne Kreisrat Christoph Trautner aus Eibelstadt damals Suhler Freunde und brachte ein Farbfoto von der regimekritischen Massenveranstaltung mit.

Siegfried Geissler war bis zur Wiedervereinigung Sonderbeauftragter der Volkskammer für die Auflösung der Stasi im Bezirk Suhl. Für das Neue Forum saß er von 1990 bis 1994 im thüringischen Landtag. Harald Casper machte sich als Personalvermittler selbstständig, und Erhard Kretschmann amtierte bis zum Juli 2000 als Superintendent.

Als die TGW-Anlage in der Feggrube im Herbst 1992 eingeweiht wurde, war Jürgen Weber längst OB und die DDR gab es seit zwei Jahren nicht mehr.

Der Suhler Superintendent Erhard Kretschmann.
Foto: ARCHIVFOTO ROLAND FLADE | Der Suhler Superintendent Erhard Kretschmann.
Harald Caspar.
Foto: ARCHIVFOTO ROLAND FLADE | Harald Caspar.
Der Suhler Bürgerrechtler Siegfried Geissler.
Foto: ARCHIVFOTO Roland Flade | Der Suhler Bürgerrechtler Siegfried Geissler.
 
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