Was macht man sich aus der Liebe der ganzen Menschheit, wenn man Zahnweh hat?“ Die Antwort auf Theodor Fontanes Frage kennt jeder, der diesen bohrenden Schmerz schon einmal empfunden hat. Sie lautet: Nichts, rein gar nichts! Zähne und ihre ungeheure Macht, einem das Leben so richtig zu verderben zu können, das hat Menschen offensichtlich seit jeher tief beeindruckt. Keilschrifttexte aus dem alten Babylonien um 2000 vor Christi Geburt nennen einen Schuldigen: den Zahnwurm. Was sonst als ein ekliges Getier sollte für solch teuflische Schmerzen verantwortlich sein? Ein hinterlistiger Schmarotzer, der im Zahninneren haust. Die Theorie überzeugte. So sehr, dass sie in vielen Kulturen noch bis ins 19. Jahrhundert überdauerte.
Das liegt zum Glück weit zurück, wie auch jene Zeiten, in denen sogenannte Zahnbrecher, umherreisende Wundärzte und Barbiere sich brachial um das schmerzende Gebiss ihrer Kundschaft kümmerten und kariöse Zähne mit dem Brenneisen bearbeiteten oder sie mit dem Zahnschlüssel herausrissen. Wohl dem Patienten, den die Bewusstlosigkeit rasch ereilte. Betäubungsmittel machten die Zahnbehandlungen erst Anfang des 20. Jahrhunderts für alle Beteiligten erträglicher. Für den Patienten, aber auch für den Operateur. Der musste bis dahin möglichst schnell und kraftvoll agieren – oder aber zupackende Helfer haben, die den vor Schmerzen zappelnden Patienten fixierten.
Verglichen damit scheint Zahnbehandlung heute ein Kinderspiel zu sein – zumindest für den Patienten: Lokale Betäubungen, wirksame Schmerzmittel, filigrane Hihg-Tech-Instrumente, digitale, bildgebende Verfahren, die zeigen, wo Probleme liegen, oftmals sogar, bevor sie sich schmerzhaft bemerkbar machen. Oder neuartige Materialien, aus denen verträgliche und beständige Implantate gefertigt und mit denen fehlendes Gewebe ersetzt werden kann – all das gehört zur modernen Zahnmedizin, wie sie in der Würzburger Zahnklinik entwickelt und angewandt wird. Vor fast genau 100 Jahren wurde sie eröffnet.
Das Klinikgebäude am Pleicherwall wurde am 29. Juni 1912 im Beisein des damaligen Prinzregenten und späteren Bayerischen König Ludwig III. feierlich eingeweiht. „Das war damals die modernste Zahnklinik Europas“, sagt Professor Bernd Klaiber, Geschäftsführender Direktor der Universitätszahnklinik Würzburg.
Die Geschichte der wissenschaftlichen Zahnheilkunde an der Uni Würzburg reicht indes noch weiter zurück: 66 Jahre zuvor, bereits 1846 hielt Professor Carl Joseph Ringelmann an der Medizinischen Fakultät der Uni Vorträge in Zahnheilkunde. „Damit war Würzburg die erste Universität in Deutschland, an der wissenschaftliche Zahnheilkunde unterrichtet wurde“, so Klaiber. Nach Ringelmanns Tod im Jahr 1854 hatte die Universität bis 1895 allerdings keinen Vertreter für Zahnheilkunde. Erst 1896 gab es wieder erste Vorlesungen und zahntechnische Kurse. 1898 begann der Würzburger Zahnarzt Dr. Andreas Michel, Vorträge über Zahnheilkunde zu halten. Zunächst kam das 1901 zur Königlichen Zahnklinik geadelte Privatinstitut in Michels Privatwohnung in der Plattnerstraße unter. Die Zahl der Studenten sprengte jedoch rasch die Kapazität der Unterbringungen. Im Sommersemester 1909 war sie auf 100 angewachsen.
Die Pläne zu einem eigenen zahnmedizinischen Institutsbau am Pleicherwall stießen 1910 beim königlichen Staatsministerium in München auf Gegenliebe. Nach nur zwei Jahren Bauzeit war das Institut fertig.
Doch der Zuwachs der Studenten hielt an. 1962 wurde die Klinik um einen Atriumbau erweitert. Der Haken diesmal: „Diese Erweiterung war auf eine Kapazität von 18 Studenten pro klinischem Semester ausgelegt, in Wirklichkeit waren es schon 38 Studierende pro Semester“, so Klaiber. Diesmal sollte es länger, nämlich mehr als 30 Jahre dauern, bis man sich auf einen Ausbau einigte.
14 Jahre wurde gebaut, während der Klinikbetrieb weiterlief. „Das war für alle eine belastende Situation: Drinnen wurde gearbeitet und Patienten behandelt, und vorm Fenster schwenkte der Kran vorbei oder wurde gebaggert“, sagt Klaiber. Vorbei, ausgestanden. Im Juni dieses Jahres wurde das 75 Millionen Euro teure Bauvorhaben abgeschlossen.
Und als gebe es ein Gesetz der Serie: „Wir sind zwar gerade erst fertig geworden, doch schon wieder zu klein“, sagt Klaiber. Die derzeit 630 Studenten müssen üben, an Phantomen, später unter Aufsicht ihrer Professoren an Patienten. Das Problem: 6,2 Studierende teilen sich momentan einen Behandlungsstuhl.
Moderne Zahnmedizin braucht Platz. Zumal sie in den vergangenen hundert Jahren gewachsen ist, eigenständige Spezialgebiete ausgebildet hat. Das zeigt sich auch an der Organisation der Würzburger Zahnklinik: Sie besteht heute aus der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie sowie den Polikliniken für Kieferorthopädie, für Zahnärztliche Prothetik sowie für Zahnerhaltung und Parodontologie, mit der eigenen Fachabteilung für Paradontologie. Ebenfalls in der Zahnklinik angesiedelt ist der Lehrstuhl für Funktionswerkstoffe der Medizin und Zahnheilkunde.
Und längst gehört es zum Alltag der Forscher und Mediziner der Klinik, dass sie eng mit anderen Bereichen der Medizin, wie der Kinderklinik, der Tumortherapie oder der Neurologie zusammenarbeiten. Auch fachübergreifende Kooperationen sind gängig: Die Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik etwa forscht mit Kollegen der experimentellen Physik, so der Direktor der Poliklink für Prothetik, Professor Ernst-Jürgen Richter. Das gemeinsame Ziel: Einen kleinen Magnetresonanzthomographen entwickeln, durch den man die leidige Zahnabdruck-Prozedur ersatzlos streichen könnte.
„Den hier arbeitenden und lehrenden Experten ist gemeinsam, dass sie stets auf dem aktuellen Stand der Diagnose- und Therapiemöglichkeiten sind“, sagt Zahnklinik-Chef Professor Klaiber. „Für unsere Patienten ein klarer Vorteil: Sie können sich sicher sein, dass sie nach den modernsten Konzepten und mit größter Sorgfalt behandelt werden.“ Die Struktur der Zahnklinik als Forschungs- und Lehreinrichtung mache es außerdem möglich, dass einige zuzahlungspflichtige, zeitaufwendige und sehr teure High-End-Therapien durchaus finanzierbar blieben – ob nun für Privat- oder Kassenpatienten. Von der einfachen Zahnreinigung über Zahn- und Zahnfleischbehandlungen, Füllungen und Kronen bis hin zu Kieferorthopädie, Implantaten und Knochenaufbau – die Zahn-Mund-Kieferklinik deckt das gesamte Spektrum der Zahnheilkunde ab. Das Einzige, was der Patient – der übrigens ohne Überweisungsschein in die Zahnklinik kommen kann – im Vergleich zu einer Behandlung bei einem niedergelassenen Zahnarzt braucht, ist etwas mehr Zeit. „Das nehmen aber viele in Kauf“, sagt Klaiber. Gerade bei komplexen zahnärztlichen Behandlungen und bei Erkrankungen, die eine kieferchirurgische Behandlung erfordern, habe die Klinik einen Einzugsradius von etwa 150 Kilometern um Würzburg. Mit dem neu gegründeten Kopf-Hals-Tumorzentrum im Rahmen des Comprehensive Cancer Centers Mainfranken reiche das Einzugsgebiet sogar noch weiter.
Und längst geht es nicht mehr nur darum, Karies zu bekämpfen, sagt Professor Klaiber. „In den 80er Jahren hatte fast jeder 20-Jährige an nahezu jedem Zahn schon eine Füllung“, erinnert er sich. Heute sei das anders. Die Karies-Prophylaxe der vergangenen 20 Jahre zeige Wirkung. Was nicht heißt, dass Karies verschwunden sei. Das Problem verschiebe sich auf einen späteren Zeitpunkt. „Die Entwicklung geht heute zu einem extrem langen Erhalt funktionstüchtiger und optisch ansprechender Zähne“, so Klaiber. Und eben das stellt die moderne Zahnmedizin vor neue Herausforderungen.
„Was macht man sich aus der Liebe der ganzen Menschheit, wenn man Zahnweh hat?“ Die Antwort bleibt: Nichts! Aber: Nie war der Weg leichter, Zahnweh loszuwerden – um den Kopf wieder freizubekommen für die schönen Dinge des Lebens.