
Sie hat eine Rose in der Hand. Weiße Haare, der Mund offen, die Augen geschlossen. Ihr Körper wirkt zerbrechlich, die Haut wächsern. Der Schlafanzug, den sie trägt, ist blau mit kleinen Elchen drauf. Frau B. wurde 87 Jahre alt. Friedlich ist sie in der Nacht in der Palliativstation St. Josef eingeschlafen. Ihr Leiden ist nun vorbei. Es ist nicht die erste Leiche, die ich in meinem Leben gesehen habe. Aber die erste, die ich mit einem Bestatter abhole. Ein Tag als Reporter in Betrieb bei der Trauerhilfe Kalli Müller – eine Herausforderung.
Persönliche Nähe macht es schwerer
Vor vielen Jahren starb mein Cousin an einer Erbkrankheit, an der schon sein Vater gestorben war. Es war schrecklich, er fiel von einem Tag auf den anderen ins Koma, lag monatelang im Krankenhaus. Als er starb und dann aufgebahrt in der Leichenhalle lag, war das nicht mehr der junge Mann, der in der Blüte seines Lebens mit Mitte 20 studierte. Ich habe geheult wie ein Schlosshund. Es ist banal, aber offenbar das Geheimnis des Umgangs mit Toten: die persönliche Nähe. Meinen Cousin hätte ich sicher nicht ohne weiteres aus dem Krankenbett heben, in den Sarg legen, diesen ins Bestatterauto hieven und zum Bestattungsunternehmen fahren können, wo die hygienische Versorgung der Leiche gemacht wird.

Mit Frau B. geht das. Sie sieht friedlich aus. Es ist würdevoll. Der Tod ist in der Palliativstation täglicher Begleiter. Wer hierher kommt, weiß, dass es zu Ende geht. Es gibt ein Ritual, wenn jemand stirbt, das ich tröstlich finde. Vor dem Zimmer eines Verstorbenen wird immer eine Kerze angezündet. Im Abschiedsraum liegt der Leichnam im Bett, grundsätzlich mit einer Rose in der Hand. Die Angehörigen dürfen so lange bleiben und Abschied nehmen, wie sie möchten. Die Rose kommt dann in den Garten der Palliativstation zu den anderen.
Angenehme Gelassenheit
Für Daniel Kehl, Juniorchef bei Trauerhilfe Kalli Müller, ist das natürlich Routine. Der 37-Jährige weiß sie aber zu verbergen, vermittelt mir ein Gefühl der Ruhe und Gelassenheit. Der Ablauf des Abholens folgt einem klaren Prozedere, das macht es einfacher mit dem Leichnam umzugehen. In der Firma wurde der für Frau B. vorgesehene Sarg schon vorbereitet, wir laden ihn ins Auto. Daniel Kehl holt den Leichenschein, keine Besonderheiten. Der Arzt hat unterschrieben, Todesursache: natürlich. Wir fahren im Aufzug in den zweiten Stock. Den Sarg auf dem Transportwagen zu manövrieren, ist nicht ganz einfach. Im Zimmer Sargdeckel abheben, die Transportschaufel zusammenbauen, die Leiche ein wenig anheben am Kopf, der Hüfte, den Beinen, schnell ist die Schaufel darunter geschoben.
Es braucht zwei Männer, um sie in den Sarg zu heben. Deckel verschließen, zurück ins Auto, ins Institut, in die Kühlung. Bei vier Grad ist dort Platz für vier Leichen, die später für die Beerdigung vorbereitet werden.

Die hygienische Versorgung hätte ich gerne mitgemacht – Ausziehen, Waschen, Versorgung von Wunden, Schminken mit Spezialschminke, Anziehen des Leichnams – doch an diesem Freitag ist dafür keine Zeit, es ist ein ungewöhnlich hektischer Tag. Als ich den Kollegen erzähle, was alles passiert ist, werden sie ein bisschen blass: zwei Trauerfeiern, die Leichenüberführung, Besuch im Krematorium, ein Selbstmord und ein tragischer Herzinfarkt eines Radfahrers, der an seinem Geburtstag stirbt.
Über 900 000 Menschen sterben jedes Jahr in Deutschland, die Firma von Daniel Kehl und seinem Vater Kalli Müller ist eines von vier Bestattungsunternehmen in Schweinfurt. 230 bis 270 Beerdigungen jährlich führen sie in Stadt und Landkreis durch, dazu die Polizeieinsätze. Rund 100 Mal pro Jahr wird die Firma Müller von der Polizei gerufen, wenn nach Unfall, Mord, Selbstmord oder nach dem Auffinden von Leichen in Wohnungen die Toten weggebracht werden müssen.
Es ist ein alteingesessenes Unternehmen, 70 Jahre, drei Generationen. Sieben Mitarbeiter, darunter zwei Auszubildende. Daniel Kehl ist seit neun Jahren dabei. Als Kind hat er seine Großeltern und seinen Vater bei ihrer Arbeit erlebt, zunächst aber lernte er Betriebswirt, arbeitete als Verkäufer in einem Autohaus. Aber es war nicht das, was er bis zur Rente machen wollte. Also stieg er bei seinem Vater ein, lernte das Handwerk von der Pieke auf, machte eine Lehre und vor zwei Jahren seinen Bestattermeister.

Begleitung und Unterstützung in der Trauer
Kehl ist ein sehr reflektierter, empathischer Mensch. Es ist ihm ein Anliegen, Trauernden in der möglicherweise schwersten Zeit ihres Lebens zu helfen, sie zu begleiten und zu unterstützen. „Es ist ein toller, abwechslungsreicher Beruf“, erzählt er morgens um 8 gleich als erstes. Er strahlt und wenn er durch die Firma führt, ist es ihm wichtig alles zu erklären. Dumme Fragen gibt es nicht.
Ein Bestatter ist, das ist ganz und gar nicht despektierlich gemeint, ein Tausendsassa: Mitfühlender Psychologe im Trauergespräch, routiniert und penibel in der Büroarbeit vom Totenschein bis zur Traueranzeige, würdevoll im Umgang mit dem Leichnam vom Transport bis zur Vorbereitung für die Beerdigung, dezent im Hintergrund bei der Trauerfeier und der Beerdigung.

Was ist das Schlimmste? Wie geht man mit dem allgegenwärtigen Tod um? Wie verkraftet man es, jeden Tag mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert zu werden? Eine zentrale Frage, über die ich lange nachdenke.
Um 10 Uhr sind wir bei der ersten Trauerfeier für eine 87-Jährige im Hauptfriedhof. Melanie Demmering und Janine Frankl bereiten alles vor, schmücken mit Kerzen und Blumen rund um die Urne in der Aussegnungshalle, sprechen mit der Pfarrerin, instruieren den Organisten. Später schaue ich von der Empore zu, Janine Frankl spielt zwei Lieder von Andreas Gabalier. Habe ich Mitgefühl für die Angehörigen: natürlich. Empfinde ich Trauer: nein.

Es stockt einem der Atem
Daniel Kehl wurde während der Trauerfeier von der Polizei angerufen, ein Einsatz. Als wir uns später in der Firma treffen, stockt mir der Atem, während er ruhig erzählt, was passiert ist. Es war ein Selbstmord, die Details spielen keine Rolle. Kehl kannte den Toten, er ist sichtbar betroffen. Und folgt doch einem überlebenswichtigen Instinkt im Umgang mit dem Fall: „Ich habe mir sofort überlegt, wie er sich die Beerdigung gewünscht hat, wie die Versorgung aussieht.“ Ich weiß, dass die Ausbildung im Bundesausbildungszentrum der Bestatter in Münnerstadt sehr gut ist, die Bestatter auf alles vorbereitet werden. Aber ich weiß wirklich nicht, ob ich in der Lage wäre, das mein Leben lang machen zu können.
„Ich komme mit dem, was ich sehe, gut zurecht, es sind die Gerüche, die mir zu schaffen machen“, erzählt Kehl und meint damit vor allem die Polizeieinsätze, bei denen man Leichen aus Wohnungen holen muss, die da schon länger lagen. Sein Schutzmechanismus funktioniert augenscheinlich, gleichwohl erzählen weder er noch sein Vater Details über die Todesfälle, die ihnen lange nachhingen. Selbst wenn sie vom Polizeieinsatz zurück kommen, gibt es nur eine kurze, sachliche Zusammenfassung dessen, was passiert ist.

Wenn sie unter sich sind und es Redebedarf gibt, sind sie natürlich füreinander da in der Firma. Andererseits hat Kehls Mitarbeiterin Melanie Demmering vollkommen Recht: „Man muss für sich einen Ausgleich finden privat. Man kann nicht mit jedem mittrauern.“ Das Arbeitsethos zeigt die Einstellung zu Kinderbestattungen: Die sind kostenlos, wie Janine Frankl erzählt, „mein Chef sagt, damit wollen wir kein Geld verdienen.“
Aktive Angsttherapie
Am Nachmittag ist ein wenig Zeit vor der zweiten Trauerfeier im Hauptfriedhof. Ich habe beim Schmücken geholfen, wir warten auf die Trauergemeinde. Wir stehen vor der Tür zum Krematorium, das sich im Rückgebäude des Schweinfurter Friedhofs befindet. Kehl fragt, ob ich es sehen will. Ich sage Ja, obwohl mir ehrlich gesagt die Knie schlottern. Aktive Angsttherapie, ich möchte nicht vebrannt werden, auch wenn Urnenbestattungen der große Trend sind. Ich habe ein großes Problem mit Brandleichen in Krimis, aber wenn man am Morgen eine Leiche abgeholt hat, kann man am Nachmittag auch noch ins Krematorium. Der junge Mitarbeiter dort hat vielleicht eine leicht schnoddrige Art, seine Arbeit zu erklären – aber aus welchen Gründen auch immer bin ich ein wenig gelassener.
Die Verbrennung eines Leichnams ist schlicht ein unglaublich industrieller Prozess, an dessen Ende von uns zwischen dreieinhalb und fünf Kilo Asche übrig bleiben.
Zurück in der Firma an der Galgenleite ruft die Polizei wieder an, tödlicher Unfall mit einem Radfahrer. Ich darf als Außenstehender nicht mit, mir reicht die Erzählung. Radtour am Geburtstag, Herzinfarkt, tot. Er hatte keine Rose in der Hand.
Tagblatt-Serie Reporter in Betrieb

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