Ihre Geschichte ist unglaublich, aber wahr. 18 Jahre war Anastasia Karnauchifk jung, als sie ihr Dorf in der Nähe von Dnepopetrowsk im April 1942 verlassen musste. Von den Nazis verschleppt, landete die junge Frau in Schweinfurt, musste bei Fichtel & Sachs Zwangsarbeit leisten. Vassily Rasinkow lebte im gleichen Lager am Main. Er fiel Anastasia auf, weil er abgemagert, entkräftet war, zerfetzte Schuhe trug. Aus Blickkontakten wurde die große Liebe. Das war ihr „Halt in dieser schlimmen Zeit der unfreien Anwesenheit und Arbeit“. Nach unendlichen Entbehrungen kehrten Anastasia und Vassily Mitte 1945 gemeinsam zu ihrer Familie zurück. Anfang März 1946 wurde Sohn Aleksej geboren.
Ulrike Cebulla und Klaus Hofmann von der Schweinfurter Initiative gegen das Vergessen besuchten im ukrainischen Dnepopetrowsk die fast 90 Jahre alte Anastasia und ihren Sohn Aleksej, 67 Jahre alt und vermutlich in Schweinfurt gezeugt. Vater Vassily lebt nicht mehr. Cebulla und Hofmann trafen sechs Ex-Zwangsarbeiter(innen) und Angehörige noch in Charkow und Kiew, wo man auch Paraskowia Kusnezowa wiedersah. Sie wurde mit 19 verschleppt, war Zwangsarbeiterin bei Kugelfischer. Die heute 90-Jährige berichtete, wie viele andere, von Hunger bei täglicher Schwerstarbeit und schrecklicher Angst als ständiger Begleiter damals.
Seit Ende der 1990er beschäftigt sich die Initiative mit dem Thema. Bis zu 12 000 Zwangsarbeiter hat es wohl gegeben. Mittlerweile sind namentlich 2800 Zwangsarbeiter erfasst, die die kriegswichtige Wälzlager-Fertigung gegen ihren Willen am Laufen halten mussten. Ein großer Teil waren junge Frauen, viele 14, 15 Jahre alt, als sie verschleppt wurden. Und viele wurden auch schwanger. Cebulla entwarf einen Fragebogen, den sie an über 200 ukrainische Zwangsarbeiterinnen sandte. Die Kontakte hatte die ukrainische Nationalstiftung vermittelt. Erstaunlich: 60 Frauen antworteten. Cebulla und Dorothee Seidlmayer besuchten 2007 sieben Frauen, interviewten die über 80-Jährigen.
Darunter Natalja Kulisch. Die Ukrainerin musste mit 23 Jahren, ab 1942, bei VKF (heute SKF) arbeiten. Als sie bei der Arbeit einmal schwer verletzt wurde, traf sie in einer Sanitäts-Baracke auf den kaukasischen Zwangsarbeiter Armen. „Er hat sich sehr um mich gekümmert“, erzählte Natalja. Armen und Natalja sind die Eltern von Iwan Kulisch, der im Oktober 1944 in Schweinfurt geboren wurde. Iwan Kulisch war bei der Eröffnung des Zwangsarbeiter-Gedenkortes in den Mittleren Weiden 2011 dabei. Er sah seine Geburtsstadt dabei das erste Mal.
Nun eine weitere Reise in die Ukraine zu den letzten bekannten Zwangsarbeitern. Als Dolmetscherin stand erneut Oksana Nikoleychuk (44) von der Nationalstiftung bereit. Sie hat Deutsch studiert und hilft – wie sie selbst sagt – aus tiefem Mitgefühl. Ohne ihr Engagement und das anderer Mitarbeiter der Stiftung wären keine Kontakte zustande gekommen. Die hatte es nur mit Zustimmung der ehemaligen Zwangsarbeiter gegeben.
In Charkow trafen Cebulla/Hofmann auch Boris Zemlianyy wieder. Er war 2011 bei der Einweihung des Gedenkortes dabei. Geboren wurde er am 30. Januar 1946 als Sohn von Ljubov und Iwan, auch sie Zwangsarbeiter in Schweinfurt. Beide leben nicht mehr. Seiner Mutter, erinnerte sich Boris, hätten ihre in Schweinfurt erworbenen Kenntnisse später genutzt. Sie arbeitete in einem Kugellagerwerk in Charkow, war die „erste Frau, die Kugellager fertigen konnte“. Bis heute arbeitet Boris in Charkow in dieser Fabrik.
Anastasia Karnauchifk, heute Rasinkowa, wusste sehr viele Details. Das Interview mit ihr dauerte mehrere Stunden. Sie wurde nicht müde zu erzählen, ihr fielen viele Details ein, berichten die Mitglieder der Initiative. Etwa Details vom schrecklichen Erlebnis der Ankunft in Deutschland, als ihr ein Soldat einen goldenen Ohrring vom Ohr riss. Den zweiten Ohrring habe sie ihm „freiwillig“ überreicht. Eingesetzt bei Fichtel & Sachs schilderte sie auch, dass sie Patronenhülsen von zirka 20 Zentimeter Länge bearbeiten musste. Ein weiterer Beweis, dass in den Fabriken neben Rüstungsgütern wie Wälzlagern und Fahrzeugteilen auch Waffenteile produziert wurden. Anastasia berichtete aber auch von deutschen Arbeiterinnen, die den „Russinnen“ Brot zusteckten. Mitunter fanden sie in Baracken oder kleinen Verstecken am Arbeitsplatz Brot und Lebensmittel, die deutsche Arbeiter dort für sie abgelegt hatten.
Die Zusammenarbeit mit der ukrainischen Stiftung soll nun vertieft werden. Kiew hat zum Beispiel Interesse an einer Schulpartnerschaft. Schweinfurter Schulen oder Jugendverbände mit Interesse können sich bei der Initiative melden, die, so Hofmann, dieses wichtige „Verankern von Geschichte“ in der Schweinfurter Gesellschaft mit den Gedenkorten in Oberndorf und am Leopoldina für die von Nazis ermordete polnische Zwangsarbeiterin Zofia Malzcyk erreicht. Man biete darüber hinaus Führungen an, will einen Schüler-Wettbewerb ausschreiben und ist aktuell dabei, dass in den ausliegenden städtischen Flyern künftig auch auf die Gedenkorte hingewiesen wird.
Die zweite Reise sehen Cebulla und Hofmann – wie auch Oksana Nikolaychuk von der Stiftung – als Geste der Völkerverständigung. „Die ukrainischen Frauen haben gespürt, dass ihr Schicksal nicht allen Deutschen gleichgültig ist“, sagt Cebulla. Dankbar ist die Initiative zudem über Spenden, zuletzt etwa die von Li Langen. Die Schweinfurterin wurde 70 und bat Freunde und Gäste, statt Geschenken um eine Unterstützung der Initiative. Diese 225 Euro machen, wie andere Spenden, deren Arbeit erst möglich.