Inbrünstig singt der Zarewitsch vom Soldaten, der am Wolgastrand steht. Furchtbar einsam wacht er übers Vaterland, von staatsmännischer Pflicht erfüllt - das Schicksal des jungen Thronfolgers, der so gern wahrhaftig lieben wollte, wenn er denn dürfte. Das ist die Hauptbotschaft der Lehár-Operette, die dem nicht mehr ganz jungen Meininger Publikum in zwei Stunden und 50 Minuten nahegebracht wird.
Aber an was erinnert mich das? Zum einen an meine operettenbegeisterte Oma, die mir das Textbüchlein einer Zarewitsch-Inszenierung 1930 in der Staatsoperette in Dresden-Leuben hinterließ. Zweitens erinnere ich mich an die eigene Sangeskunst kurz vor dem Stimmbruch, als ich im Familienkreis flehentlich um ein paar Sternlein vom Himmelszelt für den armen Soldaten bat. Drittens fallen mir Auftritte von Anneliese Rothenberger und René Kollo im „Blauen Bock“ ein, der vor Urzeiten beliebten TV-Unterhaltungssendung. Die vierte Erinnerung schließlich betrifft Christine Mielitz. Die Opernregisseurin hatte einmal während der Probe eine Meininger Chorfrau angeschnauzt: „Sie sollen nicht spielen, dass Sie gucken. Sie sollen gucken!“
Was hat die Oma mit dem frühpubertären Gesang zu tun und der wiederum mit dem Blauen Bock und der Mielitz – und wieso fällt mir das gerade bei der Inszenierung von Lars Wernecke ein, der vor einigen Jahren ein überaus flottes „Cabaret“ auf die Bühne brachte? – Dieser Zarewitsch und seine geliebte Sonja – Rodrigo Porras Garulo und Sonja Freitag (alternierend mit Maximilian Argmann und Anne Ellersiek) – singen herzerschütternd von ihrem Liebesleid. Das hätte auch der Oma gefallen. Weniger hätte ihr gefallen, dass die Worte nur dann gut zu verstehen sind, wenn die Sangeskünstler an der Rampe singen. Aber die Altvorderen kennen ja die Musik, die durch die Meininger Hofkapelle unter Leitung von Arturo Alvadaro einfühlsam intoniert wird. Weil das noch nicht reicht, sorgt natürlich auch der Chor (Leitung: Sierd Quarré) für ein angemessen russophiles Gesangsambiente. Wenn er nicht singt, unterstützt er im Hintergrund die allzeit kasatschokende und ewig lächelnde Eisenacher Ballettcompagnie (Choreografie: Andris Plucis).
Wer eine Kindheit vor den 1960er Jahren vorweisen kann, kommt bei Musik und Gesang ins Schwelgen. Schließt man die Augen, könnte man sich zweifellos eine Zeitreise in die Staatsoperette anno 1930 fantasieren. Das war's dann jedoch mit Fantasie und Ergriffenheit. In der von Christian Rinke (Bühne und Kostüme) entworfenen maroden Turnhalle, in der der Zarewitsch den Leib stählt, stehen ein paar alte Turngeräte herum. Das Fundament also wirkt schön porös, während der mit riesigen Hallenfenstern versehene Überbau mächtig prunkt. Den Raum kann man gut zu einer Traumschattenlandschaft verschleiern. Allerdings verflüchtigen sich viele der Sangestöne dorthin, wo des Wolgasoldaten Sternlein zu vermuten sind. Das alles ist Operettenfassade, genauso, wie die Handlung und der Ruf des Vaterlandes aufpolierte Klischees bleiben. Lehár hat zwar einst geschrieben, die Gestalten auf der Bühne müssten Menschen sein, „die in unserer Mitte gelebt haben könnten“, aber, abgesehen vom frommen Wunsch des Komponisten: So wie Wernecke die Menschen inszeniert, bleiben sie Operettenfiguren, die – und jetzt kommt Mielitz zu Wort – spielen, dass sie gucken, flanieren, lieben und in unserer Mitte gelebt haben könnten. Besonders auffällig ist diese aufgesetzte Kunst bei den folkloristischen Tanzeinlagen, bei den verkitschten Liebesfantasien und dem schalen Witz, an dem sich vor allem Stan Meus (Zarewitschs Leiblakai) und Ute Dähne (seine Frau) abarbeiten, während Großfürst (Reinhard Bock/Hans-Joachim Rodewald) und Ministerpräsident (Ulrich Kunze) mit steifem Rücken und intriganten Gedanken Staatsmanieren mimen.
Nein, diese Operettenwelt lebt einzig und allein von sentimentalen Erinnerungen und Melodienseligkeit. Doch um die hervorzukitzeln, bräuchte es keine aufwändige Inszenierung. Es würde genügen, wenn die Sangeskünstler, wie einst beim Blauen Bock, konzertant auftreten. Stellt sie an die Bühnenrampe, lasst sie die vorüberrauschende Jugendzeit beweinen und den einsamen Soldaten am Wolgastrand. Dann steigt Oma und mir gerne eine Träne ins Auge. Siggi Seuss
Vorstellungen: 16. Februar (15 Uhr), 22. Februar und 29. März (jeweils 19.30 Uhr), 21. April (15 Uhr). Kartentelefon: Tel. (0 36 93) 45 12 22 oder 45 11 37. www.das-meininger-theater.de