Es ist schwierig Michael Wollny bei der Arbeit zu fotografieren. Die meisten Bilder zeigen eine schlanke, schwarzgekleidete Gestalt, die sich tief über die Tastatur des Flügels beugt, das Gesicht hinter einem Vorhang aus zunehmend nassgeschwitztem dunkelblondem Haar verborgen. Da ist einer ganz bei der Sache. Oder vielmehr: ganz in anderen Welten. Wäre Michael Wollny ein Popstar, die hängende Tolle wäre vermutlich sein Markenzeichen. Tatsächlich ziert sie auch das Cover seines neuen Albums „Weltentraum“, das am 31. Januar erscheint.
Michael Wollny ist längst ein Star. Vielleicht sogar ein Popstar. Auf jeden Fall ein Star in der Welt des Jazz. Man vergisst das nur leicht, wenn man mit ihm spricht, wenn er Interviews gibt oder wenn er auf der Bühne seine Stücke ansagt. Dann ist er ein freundlicher, sanfter junger Mann ohne jegliche Allüren, der nur auf den allerersten Blick ein wenig unsicher wirkt. Denn da sind einerseits die sehr präzisen Formulierungen, mit denen er über seine Kunst spricht, und da ist andererseits der eiserne (künstlerische) Wille, mit dem er seine Ideen umsetzt.
Es ist also nur ein scheinbarer Gegensatz zwischen dem jungenhaften Schlaks und dem entrückten Gestalter am Klavier, der in seiner eleganten Besessenheit etwas Raubtierhaftes hat. Das große Feuilleton würdigt ihn mit vorbehaltlosen Superlativen. „Der vollkommene Klaviermeister: In einem Atemzug mit Keith Jarrett, Chick Corea, Herbie Hancock . . . kann man mit Fug und Recht auch Wollny nennen“, so die FAZ. Und die Süddeutsche: „Der einzige deutsche Jazzer mit internationalem Star-Appeal.“ Er gewinnt alle paar Wochen die bedeutendsten Preise, vom Echo über den Preis der deutschen Schallplattenkritik, Auszeichnungen von Stiftungen und Medien bis hin zum Bayerischen Staatspreis.
Wichtiger noch: Michael Wollny, geboren 1978 in Schweinfurt, musiziert mit den interessantesten Kollegen, dem Saxofonisten Heinz Sauer etwa, dem Posaunisten Nils Landgren oder der israelischen Cembalistin Tamar Halperin. Mit seinem Trio [em] erkundet er höchst komplexes, bis ins Kleinste durchdachtes Ensemblespiel, und bei seinen Solo- beziehungsweise Duoalben mit Tamar Halperin hat man den Eindruck, als setze er sich gleich mit der ganzen (deutschen) Kulturgeschichte auf einmal auseinander – Titel wie „Hexentanz“ oder „Wunderkammer“ öffnen dabei riesige Assoziationsräume. „Was der macht, ist eigentlich schon klassische Musik“, sagt ein bekannter Gitarrist voller Bewunderung.
Tatsächlich ist Michael Wollnys Kunst grenzenlos. Sie speist sich einerseits aus einer allumfassenden, beinahe renaissancehaften Bildung, andererseits aus der direkten Verbindung zu seinem tiefsten Sein. Er habe zu Musik ein haptisches Verhältnis, hat er einmal gesagt. So fühle sich für ihn ein ganz bestimmter Akkord wie eine ganz bestimmte Kurve in Schweinfurt an.
Michael Wollnys Musik ist neugierig und angstfrei. Der Last der gesamten Musikgeschichte ist er spielend gewachsen. Immer wieder materialisieren sich in seinen Stücken vertraute Elemente. Bachsche Polyphonie, ein überraschendes Beethoven-Dur, eine wagnersche und lisztsche Klangwolke, die a la Alban Berg dekonstruiert wird, ein Gruß an Oscar Peterson oder Thelonious Monk. Doch nichts davon ist Versatzstück. Michael Wollny gehört zu den wenigen Künstlern, die aus den zwölf Tönen, die allen zur Verfügung stehen, wirklich Eigenes schaffen können.
Extreme scheut er dabei nicht. Etwa wenn er 80 Takte lang nur einen Akkord spielt. „Hypnotischer Minimalismus“, heißt es dazu in einer Laudatio. „Im Kreis laufen bis zum Wahnsinnigwerden“, sagt er. Die Kontrolle behält dennoch immer er. Wenn er sein Material immer mehr verdichtet (oder auflöst?), es zu einem gewaltigen Tremolo anschwellen lässt, aus dem die Obertöne – körperlich spürbar – auf den Zuhörer losgehen. Wenn er das vorgebliche Chaos schlüssig in einem stinknormalen Dominantseptakkord bündelt, wenn seine ganz eigene Polyphonie einen überhitzten Boogie gebiert oder jäh über einem Spieluhrmotiv zum Stillstand kommt, als habe er das Auge eines Hurrikans erreicht.
Seine Version von Stings „Fragile“ mit Nils Landgren macht den Popsong zum Kunstlied von fast beängstigender Tiefe. Wollnys inspirierte Präzision und Landgrens Sinn für Melodik machen auch Landgrens neues Album „Eternal Beauty“ zu einer spannenden Reise zwischen Pop und Jazz (ab 31. Januar bei ACT).
„Weltentraum“ wiederum, das erste Album mit dem Bassisten Tim Lefebvre und [em]-Schlagzeuger Eric Schaefer ist eine faszinierende Reise in die Zwischenwelten zwischen kollektivem Musikgedächtnis von Guillaume de Machaut (1300–1377) über Hindemith bis hin zu Pink und der tiefen Sehnsucht nach neuen, unerhörten Klängen. Michael Wollny macht Musik, die die Welt, also das Universum und das Leben darin, auf seltsam vertraute Art abbildet und erklärt. Und damit dieses Leben bedeutend schöner macht.
Der Pianist Michael Wollny
Michael Wollny, geboren1978 in Schweinfurt. Ausbildung an der Musikschule Schweinfurt und der Musikhochschule Würzburg (bei Chris Beier). Projekte und Alben mit dem Trio [em] (mit Eva Kruse und Eric Schaefer), dem Saxofonisten Heinz Sauer, dem Posaunisten Nils Landgren, der israelischen Cembalistin Tamar Halperin. Preise: mehrere Echos, Preis der Deutschen Schallplattenkritik, Binding-Kulturpreis, Bayerischer Staatspreis und Kunstförderpreis. Die neuen Alben „Weltentraum“ mit Tim Lefebvre und Eric Schaefer und „Eternal Beauty“ mit Nils Landgren erscheinen am 31. Januar bei ACT. Im März geht Michael Wollny mit beiden Ensembles auf Tour. Termine und Karten unter www.kj.de