Die vorausgesagten Gewitter bleiben aus. Pünktlich kurz vor 14 Uhr reißt die Wolkendecke über Gerolzhofen auf und vorsichtig blinzelt die Sonne durch die Wolken, scheinbar auch neugierig darauf, was da im Philipp-Stöhr-Weg 9 vonstattengeht. In den Gängen des Wohnstiftes Steigerwald herrscht reges Treiben. Gut zu Fuß, mit Rollator oder Rollstuhl am Start, kommt es fast schon zu einem Partystau auf dem Weg zum Festsaal. Pflegekräfte und Mitarbeiter unterstützen ihre Bewohner und so findet jeder wohlbehalten einen guten Platz. Freunde und Angehörige sind angereist, um mit ihren Eltern und Großeltern zu feiern. Manche Bewohner erwarten keinen Besuch, doch sie haben das Glück, einen netten Tischnachbarn an ihrer Seite zu wissen oder genießen die Stimmung und feierliche Aufregung für sich.
Die Verantwortlichen – allen voran die Verwaltung, Küche und Haustechnik- haben in den letzten Wochen kräftig geplant und mit angepackt, damit Gäste und Mitarbeiter eine gute Zeit haben. Dem Alltag mal eine Auszeit erteilen, etwas anderes sehen und erleben ist für alle Beteiligten wichtig, im oft anstrengenden Arbeitsablauf einer so großen und vielseitig aufgestellten Einrichtung.
Dank für Engagement
Und dann ist es soweit. Geschäftsführerin Isabella Steinmüller eröffnet das erste Sommerfest dieser Art und begrüßt zusammen mit dem ersten Vorstandsvorsitzenden des Kreiscaritasverbandes Gerolzhofen - Volkach - Wiesentheid e.V. Klaus Seger alle Gäste.
"Den rund 180 Mitarbeitern aus allen Teilbereichen – der Sozialisation, dem betreuten Wohnen, der Tagespflege und dem Pflegeheim – gilt besonderer Dank für das starke fachliche und persönliche Engagement", freut sich Steinmüller. "Dieser Einsatz ist auch Grund für das familiäre Zusammensein und die Kontinuität des Fachpersonals in der Einrichtung", fügt Klaus Seger hinzu.
Das Personal hat anlässlich des Sommerfestes sogar selbst gebacken. "Na, da bleibt doch kein Wunsch offen", freut sich eine Bewohnerin und traut sich kaum das Backkunstwerk vor ihr auf dem Teller mit der Gabel zu berühren, weil es mit dem Beerentopping so herrlich aussieht. "Das hat einer mit Liebe gebacken", fügt sie genüsslich hinzu.
Im Garten duftet es nach saftigen Steaks und Grillwürsten, der Eiswagen lockt mit bunten Eissorten und die Kinder am Luftballonstand fiebern ihrem Gewinn entgegen. Mit seinem Akkordeon sorgt Herr Gruber für gute Stimmung - seine Hits aus den vergangenen 90 Jahren wecken Erinnerungen und laden zum Mitsingen und Schunkeln ein.
"Gleich singen die Kinder"
Wer es etwas ruhiger mag, kann bei den ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen der Bücherei in abwechslungsreicher Lektüre schmökern. "Bücher lassen mich die Einsamkeit vergessen", verrät eine Dame. Ihre Augen seien zwar schon schwächer geworden, doch sie liebe es, ein Buch in den Händen zu halten und beim langsamen Lesen die trüben Gedanken von Heimweh und ihren verstorbenen Wegbegleitern zu verscheuchen. Und dann macht sie sich doch noch auf den Weg- aus der Stille heraus, um das Highlight des Festes nicht zu verpassen. "Die Kinder singen gleich!"
Unter dem Motto "Jung und Alt unter einem Dach" haben die Verantwortlichen des Kinderhauses Gerolzhofen und die Einrichtungsleitung im Herbst 2018 eine Kooperation ins Leben gerufen. Verschiedene, saisonale Aktivitäten werden geplant. Immer wieder gerne und von den Bewohnern gewünscht sind die Klassiker wie Plätzchen backen an Weihnachten, gemeinsames Basteln auf den Stationen, Gottesdienste und dieses Jahr das erste gemeinsame Sommerfest. "Es geht darum, Begegnungen zu ermöglichen, Berührungsängste abzubauen", freut sich Sabine Klein, Gesamtleiterin des Kinderhauses Gerolzhofen. "Wir werden herzlich aufgenommen vom Wohnstift -die Senioren können es kaum erwarten, die Kinder wieder zu sehen."
Das Leben tanzt Sirtaki
Gemeinsam mit den Erzieherinnen haben sie fröhliche Lieder zum Singen und Mitmachen ausgesucht und fleißig geübt. Einige Senioren unterstützen die quirligen Sänger- und Sängerinnen beim Vortrag.
Die Verwandlung bei den Bewohnern ist sofort spürbar, als die Kinderstimmen erklingen. Auffällig ist, dass es plötzlich keine Senioren mehr gibt – sondern nur noch viele Mädchen und Jungen, die selbstvergessen klatschen und lachen, herumalbern und vor Rührung Tränen der Freude vergießen. Das eine oder andere Hörgerät wird noch schnell nachjustiert und dann geht es weiter. Bei dem Lied "Das Leben tanzt Sirtaki" erreicht die Stimmung ihren Höhepunkt. "Zugabe", fordert das Publikum und wer kann, hebt die Hände und lässt sich vom griechischen Urlaubsfeeling für einen Moment wegtragen. Da sind sich Isabella Steinmüller, ihr Team und die Gäste einig.
Seit 2018 ist sie Geschäftsführerin und Leiterin der Einrichtung. "Für uns ist sie ein Gewinn, weil sie Erfahrung, Know-How für alle Teilbereiche und frischen Wind mitbringt", resümiert Klaus Seger. Alte Strukturen aufbrechen und den Weg für Neues bereiten - zusammen und einfühlsam mit den Mitarbeitern - ist der engagierten Geschäftsfrau wichtig. In Zeiten des Pflegenotstandes ist ihr ganzheitliches Wissen unverzichtbar. Doch was bedeutet Pflegenotstand?
Zahlen, Daten, Fakten zum Pflegenotstand
In Deutschland fehlen Pflegefachkräfte. Etwa 36.000 Stellen sind nicht besetzt. Auf hundert offene Stellen kommen im Schnitt nur 21 Interessenten, sagt das Bundesgesundheitsministerium. Der Bedarf ist riesig. 3,5 Millionen Menschen brauchen derzeit Pflege und es werden mehr: bis 2050 sollen geschätzt 5,3 Millionen Menschen pflegebedürftig sein und schon jetzt herrscht Pflegemangel. Viele gut ausgebildete Fachkräfte gehen ins Ausland, weil sie dort besser verdienen und die Arbeitsbelastungen geringer sind. Im Schnitt kommen in Deutschland auf eine Pflegekraft zehn Patienten, in England acht, in Schweden sechs und in Norwegen sogar nur vier.
"Wir sind zum Glück zufriedenstellend aufgestellt", sagt Klaus Seger. "Unser Pflegepersonal leistet enormes und muss entsprechend bezahlt werden", fügt Steinmüller hinzu. "Wir bedauern jedoch, dass im Rahmen der Diskussion um den Pflegenotstand nur einseitig gehandelt wird und die Politik gerade verschläft, geeignete Maßnahmen auf allen Seiten gesetzlich festzulegen. "Wer auf die Seite der Entlohnung achtet, muss auch die Einnahmen berücksichtigen", ergänzt Seger.
Steigt der Lohnaufwand, erhöhen die Pflegekassen entsprechend die Einnahmen, teilweise zum Leidwesen der Bewohner, die sich die immer teurer werdenden Pflegeplätze dann nicht mehr leisten können.
Ein Haus voller Geschichten
An diesem Tag stehen jedoch nicht die Zahlen im Mittelpunkt, sondern die Menschen im Wohnstift Gerolzhofen und ihre Lebensgeschichten. Und zu denen gehört auch die von Klaus Wittke. Er ist 90 Jahre alt und hat hier seit zehn Jahren "sein letztes Zuhause" gefunden. Er kam der Liebe wegen. Als seine Frau schwer erkrankte und pflegebedürftig wurde, zog er mit ihr von Dittelbrunn nach Gerolzhofen in den Stift. Als Diplom-Ingenieur bereiste er die ganze Welt, lebte in den USA und Korea. Heute noch begeistert er seine Gesprächspartner mit seinem scharfen Verstand und seiner Klarheit. "Ich bin froh, hier zu sein", sagt er. "Hier geben sich alle außerordentliche Mühe und es beruhigt mich, dass meine Kinder sich nicht sorgen müssen."
So geht es vielen Bewohnern. Im Gegensatz zum längst vergangenen Mehr-Generationen-Modell unter einem Dach, haben sich im Zuge der Individualisierung auch die Pflegekonzepte geändert.
"Für mich ist das in Ordnung", lächelt Wittke. Mit etwas Wehmut blickt er auf sein ehemaliges Leben und Zuhause zurück, das die Enkel für ihn aufgelöst haben. "Ich lebe jetzt hier und schätze so einen Tag wie heute – schon deswegen, weil es Steakbrötchen vom Grill gibt", lächelt er verschmitzt.
Der Akkordeonspieler wird nicht müde, die Menschen zu unterhalten. Seine Zuhörer genießen diese Abwechslung und Geselligkeit, die Gespräche oder beobachten das feierliche Treiben, bis man sich höflich verabschiedet und mit all diesen Eindrücken auf sein Zimmer zurückzieht – etwas müde und die meisten mit einem Lächeln im Mundwinkel.