Den Turm in der Neuen Gasse, den kaum ein Schweinfurter kennt, sieht man im Winter am besten. Im Frühling ist er „verzaubert. „Klein Italien“ nennen die Freunde das Reich der letzten Türmer von Schweinfurt. Irene und Gerhard Mai wohnen in der Neuen Gasse 9.
Gerhard, den den meisten Jack nennen, ist der mit dem grünen Daumen. Die Blumen- und anderen Töpfe, die Kästen und Eimer, die er alljährlich bepflanzt, sind ungezählt. Die Blumenpracht des kleinen Hofes direkt an der Stadtmauer ist im Sommer grandios und hinter dem schlichten und hellgrünen Putz der Hofmauer nicht zu vermuten. Ein Most aus dem Keller getrunken auf dem Freisitz unter den Blättern der Weinrebe erinnert an spitzwegische Beschaulichkeit. Doch das Heimelige hat zwei Seiten.
Klein-Italien ist sehr klein, zumindest das zum Grundstück zählende Haus, das 350 Jahre auf dem Buckel hat, und in dem – passend zu Italien – viele Jahre lang einmal in der Woche eine professoressa in Italienisch unterrichtete. Ohne Turm haben das Haus die Großeltern von Gerhard irgendwann vor dem Ersten Weltkrieg gekauft. Der Turm wurde von der Stadt später erworben, als diese wieder einmal Geld brauchte und verscherbelte, was sie entbehren konnte. So lässt es zumindest die Familiengeschichte wissen.
Gerhard weiß von den Zeiten, als seine Eltern Anna und Nikolaus mit zwei Kindern in nur einem Raum des Hauses wohnten, im Obergeschoss; die Großeltern im Untergeschoss, der Rest war vermietet. Vier Parteien teilten sich die heute zwei jeweils 30 Quadratmeter großen Wohnungen des Hauses und den Turm. Der Offizier, der hier ein Zimmer hatte, war während des Krieges kaum in Schweinfurt, weshalb man sich in diesen Jahren nicht ganz so häufig auf die Füße trat.
Gerhard übernahm das Anwesen, zahlte Schwester und Bruder aus. Repariert, saniert, modernisiert hat er seitdem ohne Ende. Doch für eine Rundumerneuerung hat das Geld nie gereicht. Weil Irene schlecht zu Fuß ist, den Elektro-Scooter braucht, sobald sie das Grundstück verlässt, werden die beiden nur noch in den Erhalt investieren, nicht mehr in den Ausbau, denn quadratisch und ebenerdig, das ist bei einer Gehbehinderung praktisch und gut, aber in der Neuen Gasse 9 nicht zu verwirklichen. Wer dagegen Treppen nicht scheut und das nötige Kleingeld hat, kann aus dem Anwesen sicherlich ein Paradies machen, allerdings auch nur eines, das den Charme von „Klein-Italien“ dann nicht mehr hat.
Irene ist meist im Obergeschoss. Dort haben sich die beiden im Haus Küche und Wohnzimmer eingerichtet. Das obere Turmzimmer, Irenes Wirtschaftsraum, ist über die Treppenplatte zu erreichen. Dort steht der Wäschetrockner, es wird gebügelt und auch der Computer ist angeschlossen. Die unteren 30 Quadratmeter werden weniger genutzt. Das kleine Gästezimmer ist dem Sohn und seiner Familie bei Besuchen Quartier. Gerhard hat im zweiten Raum die Regale mit Büchern vollgebeugt. Zu seinem Reich gehört das untere Turmzimmer. Hier hat er sich eine Werkstatt eingerichtet, in der er viele Stunden verbracht hat, um zu richten, was am Haus und im Turm kaputt gegangen war.
Vor Jahrzehnten war das Dach des Turms in einem desolaten Zustand. Damals – unter Oberbürgermeister Georg Wichtermann – half die Stadt, gab für die neuen Bieberschwänze einen Zuschuss. Das Verfugen der dicken Trummauern und des Stücks der Stadtmauer erledigte Gerhard. Wie viele Häuser ist auch die Neue Gasse 9 rückseitig an die alte Stadtmauer gebaut, die im Hof im Originalzustand zu sehen ist. Von der eineinhalb Meter dicken Mauer aus kann man in den Bereich des ehemaligen Stadtgrabens sehen, der als Graben längst nicht mehr zu erkennen ist. Ein Nachbar hat dort große Parkbäume, die arg nahe an der historischen Mauer stehen, deren Zweige und Äste bei Sturm auf das Dach und gegen die Fenster des Turmes peitschen.
Wie im Mittelalter gebaut wurde, das wissen Irene und Gerhard aus Erfahrung und aus Gesprächen mit Fachleuten. Sie gehen davon aus, dass der Turm im Nachhinein in die Mauer eingesetzt wurde. Sehr professionell sei dies nicht geschehen, sagt Gerhard, und Irene berichtet, dass die Schlitze für Mäuse kein Hindernis sind. Den Most holt Gerhard nicht mehr aus dem Gewölbe unter dem Turm. Dort ist es zu feucht geworden. Schimmel setzt sich an den Fässern und auf den Papieretiketten der Bocksbeutel fest. Doch beim Keller können die beiden auf das Gewölbe unter dem Haus ausweichen.