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SCHWEINFURT
Wie das weiche Wasser den Stein besiegt
Oben: Auf Deutsch und Türkisch – Engin Secgin liest Nazim Hikmet in der Disharmonie.Unten: Josué Avalos, Constanze Lemmerich und Javier Hernandez.
Foto: Uwe Eichler | Oben: Auf Deutsch und Türkisch – Engin Secgin liest Nazim Hikmet in der Disharmonie.Unten: Josué Avalos, Constanze Lemmerich und Javier Hernandez.
Von unserem Mitarbeiter Uwe Eichler
 |  aktualisiert: 07.01.2016 15:18 Uhr

Es ist ein mystischer Kampf zwischen den Mächten des Tag- und des Nachthimmels: Der Adler ringt mit der Schlange, einst aztekische Ursymbole, heute Wappentiere von Mexiko. „Cuántas muertas son muchas? – Wie viele Tote sind viele?“ fragte die erste von drei Lesungen zum Thema „Gewalt und Friedfertigkeit“ im Kerzenschein auf der Bühne der Disharmonie. Initiator Bernd Lemmerich hatte der Veranstaltungsreihe ein Brecht-Motto vorangestellt: „Das weiche Wasser in Bewegung besiegt mit der Zeit den mächtigen Stein“ – als Wellenlogo, ein bisschen augenzwinkernd wohl in Richtung „Main und Meer“.

Es darf aber weit über den Main hinaus geblickt werden, nach Mexiko, Portugal, in die Türkei, oder, mit einem Film in Zeilitzheim, nach Togo: trotz bitterem Pathos nicht ohne verschmitzten Humor. Josué Avalos von der Menschenrechts-Initiative und dem Allerweltshaus Köln etwa: Man ahnt bei dem indiostämmigen Gitarristen, der hinter der Landesfahne melancholische Lieder spielt, dass er eigentlich kein Kind von Traurigkeit ist.

Auch wenn es um blutige Gewalt in seiner Heimat geht, dem sogenannten „Drogenkrieg“, berüchtigt besonders in der Grenzstadt Ciudad Juarez. Durch „El Muro“, die Mauer, getrennt von der texanischen Zwillingsstadt El Paso. 2011 wurde hier die verstümmelte Leiche der Menschenrechtlerin und Poetin Susana Chávez gefunden, 36 Jahre jung: „Feminicidios“, nennt man die hunderte Frauenmorde in der Stadt, nur eine Sparte in einem florierenden Gewerbe aus Mord, Entführung, Drogen, Zwangsprostitution, Bandenkrieg, womöglich auch Organhandel.

Constanze Lemmerich liest die Werke von Susana Chávez in Deutsch, Javier Hernandez bedächtig im spanischen Original. Die Zeilen, für Außenstehende sind sie oft schwer verständlich, wie die Gewalttaten. Die Akteure: ineinander verschlungen wie Mexikos Wappentiere. Ein korrupter Staat in einer wildwuchernden Stadt voll Doppelmoral, der die Zahl der Opfer herunterspielt, daher der Titel. Eine Polizei, die als käuflich gilt.

Die Kartelle, die ihre Drogen über den Rio Grande schmuggeln, die Infrastruktur ist gut, der Konsument nahe. Eine Heerschar von Migranten, darunter viele Frauen, ein, zwei Jahre auf Transit, ohne Papiere, ohne Schutz. Unsere „Erste Welt“, die billig in Ciudad produzieren lässt, etwa in der Textilindustrie, wo sie die soziale Spaltung ausnutzt und vertieft: „Das Kapital hat keine Grenzen und zementiert doch den Nationalismus“, schreibt Chávez. Es gehe um „Kopf oder Zahl“. Der übermächtige Nachbar USA liefert Waffen, Deutschland auch, Marke Heckler & Koch. Menschenopfer für den Wohlstand anderer, die gab es hier schon bei den Azteken, später kamen Spanier, Franzosen und Amerikaner, die reichlich Land annektierten und sich nun gegen die Habenichtse verschanzen. Chávez nennt den Zaun eine „Schlange aus Beton“, mit Ciudad Juarez als Nabel. „Die Wirtschaft beherrscht unser Land, wie bei euch“, lächelt eine Mexikanerin aus Schweinfurt bei der Diskussion, vielleicht sei es hier nicht so schlimm. „Noch nicht.“

Es sind einige Landsleute da. Auch aus Ciudad Juarez, wo es ruhiger zugehen soll, seitdem die Bundespolizei abgezogen wurde. Von der neuen Regierung erwartet man wenig, immerhin, einige Morde wurden vor einem internationalen Gerichtshof angeprangert. Die jetzige Gegenwehr ist eher Aktionismus: Josué vergleicht den Staat mit jemandem, der plötzlich gegen ein Wespennest im eigenen Haus schlägt. Und für jeden Kopf, der abgeschlagen wird, wüchsen 20 neue nach. Wer sind die Guten, wer die Bösen? Bernd Lemmerich erinnert an Biodiesel aus Mexiko, der die Nahrung der Einheimischen verteuert. Tochter Constanze, 30, reist demnächst zurück nach Caracas, Venezuela, wo die Buchautorin und Künstlerin weitere Menschenrechtsprojekte betreut.

Zweisprachig geht es am Samstag und Sonntag weiter, weiterhin unter Regie von Bernd Lemmerich: „Leben einzeln und frei“, war die Sehnsucht des türkischen Poeten Nazim Hikmet. Engin Secgin liest aus den Werken des „linken“ Querkopfs, der erst eingekerkert, dann ausgebürgert wurde und 1963 im Moskauer Exil starb. Seine hintersinnige politische und Liebeslyrik ist fern von Orientromantik, ein Bekenntnis zur Moderne.

„Im Übrigen bin ich verrückt“: Temperamentvolle Schwermut beherrscht die Lesung zu Fernando Pessoa, mit Peter Hub und dem Brasilianer Douglas Estevam. Pessoa, 1935 gestorbener Büroangestellter, Traumtänzer und Okkultist, wurde erst posthum Nationaldichter Portugals („Buch der Unruhe“). Eine multiple Persönlichkeit, die sich an der eigenen Bedeutungs- und Sinnlosigkeit weidet und hinter 72 „anderen Ichs“ versteckt. Barbara Hennerfeind begleitet an der Gitarre, Sonja Secgin liest die Rolle der jungen Ofelia, Pessoas einziger Liebe.

 
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