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SCHWEINFURT
Wenn ein Kind stirbt: Drei Mütter erzählen
Immer, wenn Lorita Weippert und Karin Bayer auf die Uhr schauen, sehen sie die Gesichter ihrer Kinder.
Foto: Nike Bodenbach | Immer, wenn Lorita Weippert und Karin Bayer auf die Uhr schauen, sehen sie die Gesichter ihrer Kinder.
Nike Bodenbach
 |  aktualisiert: 03.12.2019 09:17 Uhr

Ein Tattoo am Unterarm, eine Uhr mit einem Porträt auf dem Zifferblatt, ein Foto im Geldbeutel, ein Amulett mit einem eingravierten Bild. Melanie, Stefan und Michael sind immer ganz nah bei ihren Müttern Karin Bayer, Lorita Weippert und Luzia Müller. In der Erinnerung. Denn die drei Frauen haben etwas gemeinsam: Sie haben ihre Kinder verloren.

Karin Bayer hat den 22. Mai 2001 noch ganz genau im Kopf. Gegen 18 Uhr hatte Melanie sie noch nach Hause gefahren, dann fuhr sie zu ihrem Freund. Das junge Paar, Melanie war damals 20 Jahre alt, besuchte an diesem Abend noch einen Kumpel, gegen 22 Uhr machten sie sich mit dem Motorrad auf den Heimweg in die gemeinsame Wohnung. Auf der Landstraße nahm ihnen plötzlich ein Auto die Vorfahrt, der Fahrer hatte das Motorrad wohl nicht gesehen.

Melanies Freund bremste noch, aber konnte den Zusammenprall nicht mehr verhindern. Die junge Frau wurde gegen den Wagen geschleudert. Ihr Freund überlebte den Unfall schwer verletzt, Melanie aber starb noch an der Unfallstelle.

In der Nacht klingelte plötzlich das Telefon

Es war schon Nacht, da klingelte bei den Bayers in Dittelbrunn das Telefon. Ob sie eine Tochter namens Melanie hätten, fragte ein Arzt. Er kam zum Haus der Familie, stammelte, brachte die Nachricht nicht über die Lippen. „Da habe ich gesagt: Melanie ist tot. Und er hat ja gesagt“, erzählt Karin Bayer. Ihr wurde eng in der Brust, sie wollte Luft schnappen auf dem Balkon. Der Arzt gab ihr eine Beruhigungsspritze, die die Mutter eigentlich gar nicht wollte.

Der Tag ist gut 15 Jahre her, Bayer kann heute gefasst davon erzählen. Sie leitet seit fast zehn Jahren die Selbsthilfegruppe Verwaiste Eltern in Schweinfurt. Mütter und Väter, die ein Kind verloren haben, können sich dort austauschen und gegenseitig stützen. Die Selbsthilfegruppe gibt es seit genau zwanzig Jahren – was auch der Anlass ist, warum die drei Mütter sich bereit erklärt haben, öffentlich über ihr Schicksal zu sprechen. Ohne die Gruppe hätten sie vielleicht bis heute keinen Weg gefunden, mit ihrer tiefen Trauer umzugehen.

„Was heulst du schon wieder?“

Gegründet hat die Gruppe Luzia Müller aus Zell, damals hieß sie noch Luzia Wölfling und wohnte in Schweinfurt. Ihr Sohn Michael ist gestorben, als er 26 Jahre alt war. Über die genauen Umstände seines Todes möchte Müller nicht in der Zeitung lesen, nur so viel: Sie fand ihn in seiner Wohnung, er lag tot auf dem Bett. Der Notarzt konnte ihm nicht mehr helfen.

Luzia Müller trägt ihren Sohn Michael immer bei sich.
Foto: Nike Bodenbach | Luzia Müller trägt ihren Sohn Michael immer bei sich.

„In der Zeit danach bin ich in ein tiefes Loch gefallen“, sagt Müller. Sie hat viel geweint in den Monaten danach, wusste nicht wohin mit dem Schmerz. „Die Leute fragten: Was heulst du denn schon wieder?“ Da hörte sie von einer Selbsthilfegruppe in Haßfurt und sagte sich, dass es so was auch in Schweinfurt brauche. Sie suchte einen Raum, klebte Plakate. Schon zum ersten Treffen kamen etwa 20 Betroffene.

„Es ist so wichtig, dass es die Gemeinschaft gibt“, sagt Lorita Weippert aus Unterspiesheim. Ihr Sohn Stefan ist vor 15 Jahren gestorben, da war er gerade sieben Jahre alt. Stefan war ganz frisch in der Schule, ein fitter Junge, gut im Fußball. Bei einer Routineuntersuchung ertastete der Kinderarzt etwas in Stefans Bauchraum. Die Tests waren schnell und eindeutig: der kleine Junge hat ein äußerst aggressives Leberkarzinom.

 

Luzia Müller, Karin Bayer und Lorita Weippert (von links) beim Gespräch, aus dem dieser Artikel entstanden ist.
Foto: Nike Bodenbach | Luzia Müller, Karin Bayer und Lorita Weippert (von links) beim Gespräch, aus dem dieser Artikel entstanden ist.
Zwischen Arztbesuch und Stefans Tod lag nur eine Woche

Sofort kam er nach Würzburg auf die Station Regenbogen, ein Schweizer Professor wurde eingeschaltet. Doch der machte den Eltern keine Hoffnung. Nach ein paar Tagen bekam der Junge einen Anfall, die Ärzte mussten die fassungslosen Eltern vor die Entscheidung stellen, ob sie den Jungen mit Maschinen künstlich am Leben halten sollen oder nicht. Lorita Weippert und ihr Mann erlaubten ihrem Sohn zu gehen. Es macht ratlos, aber es war so: Stefan verstarb binnen einer Woche.

Alle drei Frauen sagen, sie hätten in den ersten Tagen nach dem Tod ihrer Kinder einfach funktioniert. Anrufe, Formulare, die Organisation der Beerdigung. „Danach brichst du dann zusammen“, sagt Luzia Müller. Karin Bayer erinnert sich, wie sie in der ersten Zeit komplett neben sich stand.

Nach vier Wochen ist sie wieder arbeiten gegangen, damals bei einem Optiker. Wie ein Roboter hat sie ihren Dienst dort getan. Wenn Männer in den Laden kamen, hat sie sich oft gefragt, ob das vielleicht der Mann ist, der den Unfall verursacht hat. Wie sieht er wohl aus? Bin ich ihm schon mal begegnet? Der Fahrer des Wagens wollte sich auch einmal entschuldigen bei den Bayers, aber sie haben abgelehnt. „In unserem Leben ist kein Platz für ihn.“

Mit der Trauer umzugehen, ist bis heute eine große Aufgabe für die drei Frauen und die Familien. Wie schwer es auch ihrem Umfeld fällt, sich zu den großen Schicksalsschlägen zu verhalten, zeigen die vielen Geschichten, die den dreien sofort einfallen. Manch einer wechselte die Straßenseite, als Luzia Müller kam, vielleicht wusste er nichts zu sagen. Lorita Weippert musste erst mal ausrasten und alle „Feiglinge“ nennen, bis sie auf die trauernde Mutter zukamen.

Karin Bayers tiefe Trauer wurde in Zweifel gezogen, weil sie auch nach Melanies Tod geschminkt zur Arbeit ging, wie sie es immer getan hatte. Und immer wieder die vermeintlich aufmunternden Hinweise, dass sie ja zum Glück auch noch einen Sohn habe.

Man kann Kinder nicht gegeneinander aufrechnen

„Man darf nicht werten“, sagt Bayer. Kinder gegeneinander aufrechnen klappt nicht. Sie hat viel über Trauer gelernt. Wenn sie jemandem Trost spenden will, dann umarmt sie die Person einfach. „Worte können verletzten, eine Umarmung nicht.“

Sie weiß heute auch, wie wichtig es war, dass sie Melanie noch einmal gesehen hat, als sie schon tot war. „Ich musste spüren, dass sie kalt ist.“ Sonst hätte sie vielleicht nie wirklich geglaubt, dass Melanies Tod Realität ist. Auch Lorita Weippert und Luzia Müller sind sich sicher, dass man es sehen muss, um es begreifen zu können. An Ärzte und Polizei richten die Frauen deshalb einen Appell: Lasst uns unsere Kinder noch einmal sehen. Und wenn es vielleicht nur eine Hand ist, die unter dem Leichentuch hervor schaut. Zu oft hörten Eltern, sie sollten die Kinder doch lieber „in guter Erinnerung“ behalten.

Die Mütter wollen mit der Selbsthilfegruppe auch klar machen, dass die Trauer nicht unter den Teppich gekehrt werden darf und kann. Besonders in den Anfangsjahren, als Luzia Müller die Gruppe aufbaute, gab es viele Vorbehalte. Aber Trauerjahr und dann weiter im Text – so geht es eben nicht. „Diese alte Sichtweise, dass man sich nichts anmerken lassen darf, dagegen wollen wir kämpfen“, sagt Karin Bayer.

Lorita Weippert hat sich ein Porträt von Sohn Stefan auf den Unterarm stechen lassen.
Foto: Nike Bodenbach | Lorita Weippert hat sich ein Porträt von Sohn Stefan auf den Unterarm stechen lassen.

Denn die Trauer geht nie ganz weg – aber sie verändert sich über die Jahre. „Das Leben geht weiter, aber es ist ein anderes“, sagt Luzia Müller. Müsste man die Trauer in ein Diagramm einzeichnen, dann wäre sie keine gerade Linie, die immer flacher wird, eher eine Welle. „Wenn du das erste Mal wieder lachst, da erschrickst du“, erinnert sich Bayer.

Heute gibt es für die Frauen wieder unbeschwerte Momente, auch in der Selbsthilfegruppe darf gelacht werden. Einmal waren die Verwaisten Eltern zusammen in Bamberg, haben eine Stadtführung gehabt und Quatsch gemacht. Als der Gästeführer fragte, was sie denn für ein Grüppchen seien, war er überrascht. Lorita Weippert und Karin Bayer machen heute ehrenamtlich Krankenhausbesuche, haben einen Hospizkurs besucht. Weippert sagt: „Aus der Trauer wächst auch etwas Positives.“

Selbsthilfegruppe Verwaiste Eltern

Anlässlich des 20-jährigen Bestehens feiert die Selbsthilfegruppe Verwaiste Eltern an diesem Samstag, 29. Oktober, um 15 Uhr einen Gedenkgottesdienst in St. Salvator. Anschließend gibt es ein Beisammensein im Kindergarten nebenan. Dort können neue Kontakte geknüpft werden oder alte wieder aufleben. Zum Weltgedenktag der verstorbenen Kinder am 11. Dezember findet in der Heilig Geist Kirche außerdem ein Candle-Light-Gottesdienst statt, der zusammen mit der Krankenhausseelsorge der Schweinfurter Kliniken veranstaltet wird.

Die regulären Treffen der Selbsthilfegruppe Verwaiste Eltern finden jede zweite Montag im Monat im Gretel-Baumbach-Haus (Kornmarkt 24) statt. Kontakt zu Leiterin Karin Bayer: Tel. (09721) 4 15 34 oder E-Mail karin-otto_bayer@gmx.de.

 
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