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SCHWEINFURT
Wenn der Krieg ins Klassenzimmer kommt
Willkommensklassen in Berlin       -  Was kann ich tun? Viele Lehrer fühlen sich hilflos im Umgang mit traumatisierten Schülern. Auch weil die Sprache fehlt, um über Erlebtes zu sprechen.
Foto: Britta Pedersen/dpa | Was kann ich tun? Viele Lehrer fühlen sich hilflos im Umgang mit traumatisierten Schülern. Auch weil die Sprache fehlt, um über Erlebtes zu sprechen.
Nike Bodenbach
 |  aktualisiert: 17.10.2017 11:19 Uhr

„Ich ahne, dass da wie in einem Vulkan etwas schlummert“, sagt der Deutschlehrer. Vielleicht sind es Erinnerungen an schreckliche Erlebnisse, an Situationen mit Todesangst. In die Klasse des Lehrers gehen mehrere junge Flüchtlinge, der Lehrer würde mit ihnen gerne über das Erlebte sprechen. Doch da ist die Sprachbarriere und vor allem die Frage: Sollte er das tun – oder besser nicht?

„In meiner Klasse ist eine Schülerin ausgetickt, als sie eine Figur von Jesus am Kreuz gesehen hat“, sagt eine andere Lehrerin. Das Mädchen kommt aus Syrien.

Möglicherweise hat die Jesusfigur sie an Bilder erinnert, die sie in ihrer Heimat ansehen musste, der Islamische Staat soll auch Menschen kreuzigen. Das jedenfalls ist ein Erklärungsversuch von Hans-Joachim Röthlein. Er ist Schulpsychologe und Sprecher von KIBBS, dem „Krisen-Interventions- und Bewältigungsteam Bayerischer Schulpsychologen“.

Das KIBBS wurde ursprünglich gegründet, um nach Amokläufen an Schulen zu helfen. An diesem Tag aber ist Röthlein Referent beim Seminar „Flüchtlinge in Schulen“ des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands BLLV.

Jeder zweite syrische Flüchtling ist traumatisiert

Auf dem Programm steht ein Workshop zu Deutsch als Zweitsprache und zum Umgang mit Muslimen im Schulalltag. Auf besonderes Interesse stößt aber die Arbeitsgruppe zum Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen.

Etwa die Hälfte der Syrer, die nach Deutschland kommen, ist laut Röthlein traumatisiert. Viele von ihnen kämpfen mit sogenannten Flashbacks, bei denen sie ganz plötzlich in die traumatische Situation zurückversetzt sind. „Die denken dann, das passiert jetzt wirklich“, sagt Röthlein.

Manche werden aggressiv, rasten aus, andere werden ganz ruhig und sind nicht mehr ansprechbar. Als Röthlein das so vorträgt, scheinen viele Lehrer im Seminar Schüler darin wiederzuerkennen.

Ausgelöst werden die Flashbacks durch einen Schlüsselreiz, einen sogenannten Trigger. Das Problem: Man muss den Trigger kennen, um ihn vermeiden zu können. Dass der kleine Jesus am Kreuz ihre Schülerin komplett aus der Fassung bringt, das hatte die Lehrerin nicht kommen sehen.

Der heimtückischste Trigger ist der Geruch

„Ein Trigger kann so ziemlich alles sein“, sagt Röthlein. Ein lauter Knall oder die blutende Platzwunde beim Unfall im Sportunterricht, das ist noch irgendwie einleuchtend. Baustellenlärm, der an einstürzenden Häuser erinnert oder einfach eine bestimmte Farbe, das braucht schon etwas mehr Fantasie. Das Chaos auf dem Pausenhof, das vielleicht an Kriegsgetümmel erinnert.

Eine Lehrerin denkt sofort an einen Afrikaner in ihrer Klasse, der in der Pause niemals auf den Hof geht. Vielleicht deshalb. „Aber der heimtückischste Trigger ist der Geruch“, sagt der Schulpsychologe. Zum Beispiel im Sommer, wenn der Duft von Grillfleisch über die Straße wabert und einen Flüchtling an den Geruch verbrannter Menschen erinnert.

Als Röthlein das so sagt, ist die Betroffenheit im Raum mit Händen zu greifen. Um die Trigger umschiffen zu können, müsse man um die Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen wissen. Allerdings ohne nachzubohren, ohne allzu detailliert zu graben. Gleichzeitig sollen die Schüler die Flashbacks verstehen lernen.

„Ergreifen Sie die Gelegenheit, wenn sich Schüler von sich aus ein wenig öffnen.“ Aber wie soll das alles gehen, wenn doch (noch) die Sprache fehlt und Dolmetscher rar sind? Es ist ein Dilemma.

Lehrer fühlen sich oft hilflos

Das Gefühl der Hilflosigkeit haben die Lehrer auch auf ein Plakat geschrieben, auf dem sie ihre Gedanken zum Umgang mit Flüchtlingskindern schreiben sollten. Die Pädagogen haben Angst vor der Überforderung, Angst vor einer falschen Einschätzung der Gefühlslage ihrer Schüler. Nicht immer liegt eine Traumatisierung vor, aber wie kann der Lehrer da differenzieren?

„Die Lehrer sind dafür auch nicht ausgebildet“, sagt Tomi Neckov, BLLV-Vizepräsident. Hinzu komme der Lehrermangel an Mittel- und Realschulen – auf die nun mal die meisten Flüchtlingskinder gehen. Das Seminar ist ein Anfang.

Die Ausraster kommen für die Lehrer also wahrscheinlich ganz plötzlich. „Reden sie ruhig auf den Schüler ein, dieser Tonfall ist in jeder Sprache gleich“, rät Helmut Bauhuber, der ebenfalls bei KIBBS ist und den Workshop zusammen mit Röthlein leitet.

Anfassen sollten die Lehrer die Kinder und Jugendlichen in einer solchen Ausnahmesituation aber nicht, es könnte die Sache verschlimmern, wenn das Trauma mit körperlicher Gewalt zu tun hat. Andere Reize anzubieten, ist ein Trick, um den Traumatisierten aus dem Tunnel zu holen. Ihn auffordern, mit den Augen dem Finger zu folgen, der sich hin und her bewegt. Und wenn nichts mehr geht: 112 wählen.

 
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