„Es liegt so was in der Luft, als ob es wieder möglich wäre“, sagt die Auschwitz-Überlebende Ruth Melcer, die auf Einladung des Bayernkollegs in der Reihe „Zeitzeugen im Gespräch“ ihre Geschichte erzählt. Gerade einmal ein Dreivierteljahr ist es her, dass die 83-Jährige erstmals vor Publikum über ihre Kindheit gesprochen hat. Sie hat sich entschlossen, an die Öffentlichkeit zu gehen, um Wirkung zu erzielen, gerade in einer Zeit des Rechtsrucks in Europa.
Genau in diese Richtung zielte die letzte Frage aus dem Schülerkreis von Bayernkolleg und Gästen vom Celtis-Gymnasium: „Was löst diese Entwicklung in Ihnen aus?“ Unendlich traurig mache sie das, sagt die zierliche, elegante Dame, auf keinen Fall wolle sie einen weiteren Weltkrieg erleben oder in Umständen leben, die mit der Zeit des Nationalsozialismus vergleichbar wären. Und genau deshalb sei sie hier.
Zeitzeugengespräche wichtiger denn je
Bereits Schulleiter Peter Rottmann und Geschichtslehrer Michael Goll hatten in ihrer Einführung die Notwendigkeit der Zeitzeugengespräche thematisiert, die Aktualität angesichts zunehmender antisemitischer und rassistischer Tendenzen inklusive diverser Äußerungen von Politikern am rechten Rand, die einen fundamentalen Wandel in der Erinnerungskultur eines Landes einfordern.
Peter Rottmann führte gemeinsam mit zwei Schülerinnen im Gespräch mit Melcer durch ihr bewegtes Leben: Geboren in eine jüdische Familie, als Ryta Cukierman im polnischen Tomaszov, zwischen Warschau und Tschenstochau gelegen, wurden Melcer und ihr Bruder zunächst von einer Frau vor den Deutschen versteckt. Heute noch ist sie ihr dankbar, sei sie doch ein ungeheures Risiko eingegangen und habe ihr eigenes Leben riskiert.
Ghetto, Arbeitslager, Auschwitz
Dennoch folgten Ghetto, ein Arbeitslager, schließlich das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Melcer berichtet über die schrecklichen Umstände des Transports, die Ankunft im KZ, bei der die Menschen entwürdigt und ihrer Identität beraubt wurden. Ihre Erinnerungen daran seien nicht gerade wie ein Film, eher wie ein Gefühl der Unwirklichkeit, sagt sie, äußerlich ganz ruhig, gefasst und sachlich.
Doch sie erinnert sich an einen ersten Eindruck: Eine Frau sei, in eine Art seidenen Morgenmantels gekleidet, Peitsche schwingend hin und her gegangen. „Kein Mensch wird das überleben!“, habe sie geschrien. Eine andere Aufseherin, Olga, kümmerte sich um das Kind, rettete es vor den Experimenten eines Josef Mengele.
Melcer erzählt von Angst, Hunger und Unterernährung, aber auch vom geradezu unwirklichen Moment der Befreiung. Die Eltern kehren aus den Lagern Ravensbrück und Bergen-Belsen zurück, der kleine Bruder nicht: Der war 1943 mit anderen Kindern aus dem Arbeitslager abtransportiert und erschossen worden.
Die Flucht aus Polen aufgrund von Judenpogromen führte die wiedervereinte Familie über Berlin nach München, Gymnasium im München der 50er-Jahre. Begegnung mit Lehrern, die eine „braune Vergangenheit“ hatten, drei Jahre bei Verwandten in Tel Aviv, Rückkehr nach Deutschland, Ausbildung zur Chemielaborantin, Familiengründung, das Leben ging weiter.
Sie wollte eine jüdische Identität
Ruth Melcer, die ihren Vornamen änderte, weil sie keinen polnischen Namen mehr, sondern eine jüdische Identität wollte, entwickelte Schutzmechanismen, um das Erlebte zu verarbeiten, zu verdrängen. Das funktioniere bei ihr ganz gut, sagt sie auf Nachfrage aus dem Publikum.
In Israel sei oft die Frage gestellt worden, warum man sich denn nicht gewehrt hätte. Doch der Horror, das Töten, der Schrecken, den die Nationalsozialisten verbreiteten, seien so groß gewesen, dass niemand mehr dazu in der Lage war, reflektiert sie. Vom gesamten Ausmaß der Katastrophe habe auch sie erst nach und nach erfahren.
Lange konnte Ruth Melcer nicht über ihre Vergangenheit sprechen. Erst als sie mit ihren Kindern und Enkeln vor sechs Jahren nach Auschwitz fuhr, begann sie im Vorfeld mit Gesprächen. Umso dankbarer zeigte sich Melcer für das Engagement am Bayernkolleg. Die ohne Scheu gestellten vielen Schülerfragen hätten sie überrascht, sie bewundere die jungen Leute dafür. „In der heutigen Situation hätte ich das nicht mehr erwartet“, sagt sie.