Wie schön die Aussicht von der Peterstirn ist, weiß der Schweinfurter Marco Heinickel mittlerweile bestens. Der Weg von der Innenstadt hoch zur Peterstirn ist für ihn zur Haus- und Hofstrecke geworden. Den Fußmarsch, bei brütend heißer Hitze, legt er dem Autor zu Liebe wohl mit deutlich langsamerem Tempo zurück als üblich. "Hike or die" - "Wander oder stirb" - schreibt er auf seinem Instagram-Account. Ganz so ernst nahm er es an diesem Mittwochnachmittag nicht. Eine "entspannte Runde" sollte es werden. Sie wurde es und "Haino" erklärte, wie für ihn das Wandern in der Pandemie zum "Gamechanger" wurde.
Vor Corona war der Musik- und Wrestlingfan während seiner Urlaubstage ein umtriebiger Weltenbummler, neugierig und mit in einem außergewöhnlichen Energielevel in seiner Freizeit. Auf seinem Handy hat er Selfies zusammen mit Box-Legende Mike Tyson und dem legendären Wrestler "The Undertaker". Die USA haben es ihm besonders angetan. Europa hat er, wenn er als Tourbegleiter mit Bands wochenlang unterwegs war, auch schon ausgiebig erkundet. An den Wochenenden standen zudem die letzten Jahre immer Veranstaltungen im Stattbahnhof an. Im Schweinfurter Kulturhaus ist der 33-Jährige seit Anfang 2020 erster Vorstand.
Als pandemietauglich haben sich sein Lebensstil und seine Leidenschaften jedoch nicht erwiesen. Mit der Zeit fiel er in ein Loch, erklärt er. Seine Zeit vor und nach seiner Arbeit in der Schweinfurter Industrie im Schichtbetrieb verbrachte er fast nur noch auf der heimischen Couch. "Ich vegetierte nur noch", sagt er, ohne viel drumherum zu reden. Aus diesem Tief herausgeschafft hat er es letztlich ganz unverhofft, schlicht und einfach mit Laufen.
Für seinen zweiwöchigen Urlaub im letzten März, den er eigentlich für eine Band-Tour genommen hatte – in der Hoffnung, die Pandemie würde dies zulassen – nahm er sich stattdessen vor, jeden Tag wandern zu gehen. Und seither läuft und läuft er – an fünf bis sechs Tagen in der Woche.
Auf den Geschmack gekommen ist er eigentlich schon vor Jahren bei einem seiner USA-Urlaube, als er dort mit Freunden in Kalifornien wanderte. "Wenn ich so etwas zu Hause hätte, würde ich auch jeden Tag wandern gehen", hört er sich heute damals sagen. Wandern war so ein "Urlaubsding", empfand er: "Ich hatte mir eingebildet, wenn ich arbeite, ist für sowas keine Zeit da." Heute weiß er, das funktioniert auch hervorragend in den hiesigen Gefilden an im Grunde jedem Tag.
"Ich war 15 Mal in Amerika, aber bis 2020 noch nicht einmal an der Peterstirn", sagt er und lacht dabei. Mittlerweile hat er auch seine Heimat als "Paradies für Wanderer" ausgemacht. Die eigene Umgebung, in der er regelmäßig 30 bis 40 Kilometer-Märsche zurücklegt, sieht er heute mit völlig anderen Augen. "In der Schweinfurter und Würzburger Gegend habe ich so viele neue, schöne Ecken kennengelernt. Warum war ich da noch nie? Ich hatte es nie wertgeschätzt, wie cool es bei uns ist." Der Schlüsselmoment, in dem er jede Scheu vor Entfernungen verloren hat, war eine Runde in der Rhön von der Wasserkuppe bis zum Kreuzberg mit 43 Kilometern und 1300 Höhenmetern in acht Stunden. "Das geht wirklich", stellte er fest.
Die richtigen "Gewaltmärsche" legt er meist alleine zurück. Kürzere Strecken auch häufig gerne mit Freunden. Der treibende Sound der Punkmusik eignet sich hervorragend, um sich beim Laufen zu pushen, empfiehlt er. Auch stundenlange Podcasts über Wrestling oder Musik haben ihn schon unzählige Kilometer begleitet. Im Dezember 2020, noch mitten im Corona-Blues, mit viel Zeit vor dem Fernseher oder am Handy, kam er auf täglich 7000 Schritte. Aktuell zeigt sein Schrittzähler am Ende der Woche einen Tagesdurchschnitt von etwa 35 000 Schritten an.
"Es ist schön, jeden Tag eine Aufgabe zu haben und sich Ziele zu setzen." Er fühlt sich besser denn je. Früher hätte er für Urlaube oder Wochenenden gelebt, erklärt er. "Jetzt fühlt sich jeder Tag wie Urlaub an." Körperlich und mental tut ihm das Wandern enorm gut. Nach Touren oder Urlauben, in denen er regelrecht aufblühte, fiel er daheim nach zwei, drei Tagen immer in ein Loch. "Seit März schaffe ich es, die gute Laune, die ich sonst nur aus dem Urlaub kenne, permanent zu halten." Die Zeit beim Wandern in der Natur nutzte er auch, um die Situation während der Corona-Zeit zu reflektieren und zu bewältigen. "Ich habe es sehr zu schätzen gelernt, was ich bisher alles erleben durfte. Ich habe alles mitgenommen, was geht. Das war genau richtig. Wer weiß, wann wir mal wieder völlig unbeschwert nach Amerika reisen oder auf Konzert gehen können."
Auch wenn er sich um viele seiner Freunde und Bekannte, deren finanzielle Existenz von der immer noch brachliegenden Konzert- und Kulturbranche abhängt, Sorgen macht, fällt seine ganz persönliche Corona-Bilanz bis zum heutigen Tag durchweg positiv aus. "So ausgeglichen war ich noch nie über einen kontinuierlichen Zeitraum. Ich bin mit mir selbst im Reinen. Das verdanke ich großteils dem Laufen."
Ein Rastloser, wie er es jahrelang war, hat eine ganz neue Seite an sich entdeckt. "Beim Wandern siehst du am Horizont dein Ziel. Es sieht gar nicht so weit weg aus, aber dann läufst du noch mal zwei, drei Stunden", erzählt er: "Du brauchst eben für alles eine gewisse Geduld und Ausdauer." Er hält nichts davon, in der jetzigen Phase der Pandemie irgendetwas zu überstürzen, auf dem ersehnten Weg zurück zur Normalität. Auf den Moment, wieder Freunde in den USA zu besuchen oder die ersten schweißtreibenden Hardcore-Konzerte im Schweinfurter Stattbahnhof zu erleben, freut er sich selbstredend riesig. Seine neue Leidenschaft, das Laufen, wird er sich aber auch dann weiter beibehalten - mindestens 15 000 Schritte pro Tag. "Und wenn ich dafür nur mit dem Kaffeebecher in der Hand durch die Stadt laufe."