Ich muss die Geschichte jetzt erzählen. Sonst gerät sie in Vergessenheit. Noch besteht die Chance, dass sich jemand an das Geschehene erinnert, dass man etwas von den Eltern oder Großeltern gehört hat", so Günther Johrend beim Besuch der Redaktion im Atelier des Glaskünstlers in der Schwebheimer Hadergasse. Hier präsentiert er die Ergebnisse seiner Spurensuche: Vor allem bunte Glasscherben, aber auch Patronenhülsen und ein Projektil im Fensterrahmen – abgefeuert aus einem Karabiner.
Im Juli 2020 wird Günther Johrend nach Rügheim gerufen, wo bei Renovierungsarbeiten das seit etwa 1930 von außen wie auch vom Innenraum her eingemauerte Chorfenster freigelegt wurde. Nach Osten ausgerichtet, lässt das Fenster "Morgenstern" das Morgenlicht in den Chorraum fluten. Die Jahreszahl 1887 ist zu beiden Seiten des den Namen gebenden Symbols in weißer Schrift auf violettem Untergrund zu lesen. Zumindest der Einbau ist damit datiert. Nicht bekannt ist dagegen, woher die Patronenhülsen im Hohlraum (Fensterlaibung) zwischen den vor neun Jahrzehnten gezogenen Mauern und die Gewehrkugel im Fensterrahmen stammen.
Zwei jeweils in der Größe eines Medizinballs vorgefundene Schadstellen am Fenster stuft Johrend als Folge eines Beschusses von außen mit Schrot ein. Dafür sprechen auch ungezählte Schäden am geborstenen Glas und am Blei zwischen den Glasteilen. "Da wurde schnell zugemauert. Da hat sich keiner um den Schaden geschert", meint der Glaskünstler. Vorgefallenes sei wohl vertuscht worden, meint er.
Als weitere Besonderheit notiert der Fachmann auf, dass alle gelben Glasteile gebrochen waren. Diese Krakelierung (Feinrisse) sei typisch bei Glas nach starker Erhitzung, gefolgt von schneller Abkühlung – also für den Ausbruch eines Feuers. Dass nur das gelbe, nicht aber das weiße, rote, blaue und violette Glas gezeichnet ist, liege an der Zusammensetzung bei diesem Gelbton, so Johrend.
"Ich war mir von Anfang an sicher, dass ich das Fenster restaurieren kann", erzählt der Glaskünstler weiter. Kurz vor Weihnachten hatte sich dann der Kirchenvorstand für die Wiederherstellung und gegen ein neues Kunstwerk entschieden. Für das auch nach heutigen Maßstäben nahezu moderne Kirchenfenster schaute sich Johrend in der Glasmanufaktur Lampert in Waldsassen um. Dort fand er das gesuchte "lebende" Glas (kaum merklich gewellt) mit brillanter Strahlkraft.
Das ausgebaute Fenster (110 Zentimeter breit, 260 Zentimeter hoch) samt dem "fantastisch gut erhaltenem Holzrahmen" wurde vor Ort in Rügheim mit einem Spezialband, das fest klebt und sich trotzdem leicht entfernen lässt, gesichert. Nach Abschluss der Arbeiten im Atelier in Schwebheim wurde beim Einbau in Rügheim auf der Außenseite vor das Glasfenster ein Spezialglas gesetzt. Die so realisierte museale Präsentation zeigt die filigrane Technik der Glaskunst aus dem Jahr 1887 und von heute.