Was ist ein Derivat? Die zahlreichen Zuhörer in der Disharmonie sind jetzt im Bilde: Ein Derivat ist so etwas wie eine Pferdewette, bei der man nicht weiß, wann und wo das Rennen stattfindet, ob es einen Jockey gibt, das Rennen überhaupt gestartet wird und eigentlich ein Pferd vor Ort ist. Und falls ja, ist nicht klar, in welche Richtung es rennt. Das ganze läuft unbeaufsichtigt und direkt „over the counter“, was vergleichbar ist mit dem früheren „under the table“.
So einfach erklärt sich die Finanzwelt im neuen Programm von Claus von Wagner „Theorie der feinen Menschen“. Und so locker gehen Finanzberater mit ihrem Lieblingssymbol, der Spekulationspyramide um. Dieses „Grabmal“ wird in der Kunst der Verkaufsberatung gerne bemüht, um Kunden bildhaft Risikoklassen zu vermitteln, gleichzeitig aber auch einzulullen, eine Welt voll Milch, Honig und Gold wie im alten Pharaonenreich vorzugaukeln.
Der Kabarettist beschäftigt sich in seinem neuen Programm vor allem mit der Finanz(halb)welt. Er begibt sich dazu als Klaus Neumann in den Tresorraum einer Bank, wo er versehentlich eingeschlossen wird. Dadurch hat er eine ganze Nacht lang Zeit, für eine Rede die Unterlagen seines verstorbenen Vaters, eines Wirtschaftsprüfers, zu sichten. Und Klaus entdeckt Erstaunliches, geben die väterlichen Memos, Mails und Dokumente doch nach und nach einiges an Geheimnissen und verschlüsselten Insidermitteilungen aus dem Finanzwesen preis.
Der Eingesperrte kommt ins Grübeln. Er sinniert über Finanzmärkte im Allgemeinen und Besonderen, über Charity-Galas, den Unterschied zwischen Wirtschaft und Recht beziehungsweise Wirtschaftsethik. Er stellt auf intelligente Weise die Berechenbarkeit der Zukunft in Frage und belegt dies durch zahlreiche Beispiele – von Bismarck bis zur Weihnachtsgans: Sie lässt sich am Tag vor Weihnachten immer noch vertrauensvoll füttern und in Sicherheit wiegen – genauso wie ein kleiner Bankkunde, das „Plankton im Meer der Finanzwale“.
Claus von Wagner weiß meisterlich mit Worten umzugehen und er kann schauspielerisch überzeugen. Die Kanzlerin persönlich scheint da plötzlich von der Bühne herab ein Volk zu beschwichtigen. Sehr realistisch die Gerichtsszene in der Familie Neumann mit dem Vater als Ankläger, der Mutter im Zeugenstand und dem kleinen Klaus, angeklagt wegen eines Knallschusstraumas.
Klug und nachvollziehbar klärt von Wagner, dass kein Politiker lügen müsste, wenn sich sein Volk nur entsprechend verhielte: „Wenn keiner fragte, bräuchte auch ein Wulff nicht zu lügen.= Die Erfindung des Geldkreislaufs durch Affen, die Theorie der unsichtbaren Hand, Ratingagenturen, Bundespräsidentenwahl, stagnierende Seitwärtsmärkte, perverse Geschäftsmodelle wie Tote-Rentner-Fonds, Gutmenschentum, Atomkraft, Discountergeschäftsmodelle, Elitenleid, Begründungsketten der Wirtschaftswissenschaftler und die Philosophie von Geld und Schein – Themen in Hülle und Fülle strudeln über die Bühne, nehmen dem Protagonisten den Atem wie der hermetisch abgeschlossene Tresorraum ihm die Luft.
Wie in einem obskuren Traum scheint allmählich alles im schwindenden Bewusstsein dieses großartigen Kabarettisten zu verschwimmen. Gott sei Dank, dass die Tresortür noch rechtzeitig geöffnet wird: Claus von Wagner darf gerne weiterspielen! Elke Tober-Vogt