In den Jahren 1978 und 1979 wurden in der ehemaligen DDR mehrere tausend Frauen nach der Geburt von Kindern einer so genannten "Anti-D"-Immunprophylaxe unterzogen. Mit dem Immunglobulin-Präparat, dessen Abgabe in der ehemaligen DDR gesetzlich zwingend vorgeschrieben war, sollte bei späteren Schwangerschaften eine Rhesusfaktor-Unverträglichkeit zwischen Mutter und Kind vermieden werden, erklärt Sebastian Gülde, Pressesprecher des Bundesministeriums für Gesundheit in Berlin, auf Anfrage dieser Redaktion.
"Ich bekam auch dieses Präparat gespritzt, obwohl ich keine weiteren Kinder mehr bekommen wollte", erzählt Gudrun Englert. Im November 1978 sei dies gewesen, kurz nach der Geburt ihres zweiten Kindes in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz). Aber der Krankenhausarzt habe der damals 31-Jährigen keine Wahl gelassen. "Sogar eine Frau, die sich beim Kaiserschnitt gleich sterilisieren ließ, hat danach noch die Spritze bekommen."
Verseuchtes Serum verwendet
Was damals weder die Ärzte, noch die jungen Mütter wussten: Einige Chargen der an die Geburtsstationen verteilten "Anti-D"-Immunprophylaxe, hergestellt aus menschlichem Serum, waren mit dem Hepatitis-C-Virus verseucht. Bei der Herstellung des Präparats in einem volkseigenen Betrieb (Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Halle) war das "saubere" Serum ausgegangen. Der Leiter des Betriebs stand unter einem so großen politischen Druck der Gesundheitsbehörden, dass er wissentlich Serum in die Produktion einschleuste, das mit Hepatitis C verseucht und eigentlich ausgesondert war. Es war keine Schlamperei, sondern eine klare Anweisung. "Dieser Mann hat ganz bewusst unsere Erkrankung in Kauf genommen", klagt Gudrun Englert. Rund 7000 Frauen wurden infiziert. Ein riesiger Arzneimittel-Skandal.
Viele Opfer starben inzwischen an Leberschädigungen und Leberkrebs, weil es vor Jahrzehnten noch keine effektive Behandlungsmöglichkeit gegen die Virusinfektion gab. Die DDR gewährte den überlebenden und schwer kranken Frauen eine Einmalzahlung und eine monatliche Rente, die sich in der Höhe nach dem individuellen Grad der Schädigung richtet. "Ich habe 15 000 Ostmark als Einmalzahlung bekommen und danach 514 Euro monatlich als Rente", berichtet Englert, die im Jahr 1947 geboren wurde.
Entschädigung per Gesetz
Die in der DDR gewährte Entschädigungsregelung wurde im deutsch-deutschen Einigungsvertrag übernommen. Die Entschädigung der Betroffenen erfolgt seit dem Jahr 2000 nun auf Grundlage des "Gesetzes über die Hilfe für durch Anti-D-Immunprophylaxe mit dem Hepatitis-C-Virus infizierte Personen" (AntiDHG), erklärt das Bundesgesundheitsministerium.
Von März 2001 bis Januar 2002 unterzog sich die damals 55-jährige Gudrun Englert, nachdem die gesundheitlichen Beschwerden immer schlimmer wurden, einer Interferon-Therapie in Chemnitz. Mit wenig Erfolg. "Danach war ich 78 Wochen lang krank." Ihr wurde eine Erwerbsminderung von 40 Prozent bescheinigt. "Mir ging es so schlecht, dass ich komplett aus meinem Beruf ausscheiden musste", sagt die ehemalige Lehrerin. "Zehn Jahre zu früh."
"Ich bin jetzt virenfrei"
Durch den medizinischen Fortschritt in der antiviralen Therapie konnte Hepatitis C bei den meisten betroffenen Frauen inzwischen geheilt werden. So auch bei Gudrun Englert, die nach der erfolglosen Interferon-Therapie Sachsen verließ und in den Westen zog. Die modernen Behandlungsmethoden des Teams von Prof. Hartwig Klinker, Chefarzt an der Infektiologie am Universitätsklinikum Würzburg, brachten schließlich den Durchbruch. "Die Viren sind zu 100 Prozent bekämpft", freut sich die Frau, die seit inzwischen zehn Jahren mit ihrem Ehemann im Kolitzheimer Gemeindeteil Lindach (Lkr. Schweinfurt) wohnt. "Ich bin jetzt virenfrei und die Leber ist ausgeheilt."
Die Erfolge der ärztlichen Behandlungen hatten dann aber eine dramatische Folge, mit der die geheilten Frauen nicht rechnen konnten: Die monatlichen Entschädigungsleistungen wurden gekürzt oder fielen ganz weg. So auch bei Gudrun Englert. Der Kommunale Sozialverband (KSV) Sachsen mit Sitz in Chemnitz meldete sich bei ihr. Der KSV ist unter anderem auch für die Entschädigung von Personen zuständig, die in der DDR durch eine staatlich vorgeschriebene Schutzimpfung oder Prophylaxe-Maßnahme gesundheitliche Schäden erlitten haben. In dem Schreiben teilte der KSV Gudrun Englert im vergangenen Jahr mit, dass ihr wegen ihrer gesundheitlichen Genesung die monatliche Rente von 514 Euro entzogen wird. "Das Geld bekam ich letztmalig im Juni 2018, ab Juli war Schluss."
Finanzielle Verluste
Der Rentenbescheid war ein Schock. "Es geht mir nicht um das Geld", betont die ehemalige Lehrerin, "aber diese Ungerechtigkeit macht mich kaputt!" Sie habe finanzielle Verluste erlitten, weil sie über Jahre ohne ihr Verschulden nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten konnte. "Meine jetzt fehlenden Rentenansprüche sind doch eine Nebenwirkung des Geschehens von 1978. Der Zusammenhang zwischen dem kontaminierten Immunglobulin und der vorzeitigen Aufgabe meines Berufs ist ja zweifelsfrei bewiesen." Ohne das verseuchte Serum hätte sie als Lehrerin bis zu ihrer Pensionierung arbeiten können. Zudem habe sie durch die damaligen Ereignisse und ihre schwere Krankheit eine geschwächte Psyche, "die nie wieder gesund geworden ist".
Doch Gudrun Englert ist eine Kämpferin. Sie gründete bereits in den 90er Jahren, noch als sie in Sachsen wohnte, den "Bundesverband HCV-geschädigter Frauen" mit Sitz in Chemnitz in der Rembrandtstraße 17. Ihr Ziel: Den Opfern der Arzneimittelstraftat vor über 40 Jahren zu ihrem Recht zu verhelfen, insbesondere denen, denen jetzt die Rente gestrichen wurde . Weitere Gruppen im Bundesgebiet gründeten sich mit den gleichen Zielen. Und das langjährige Bemühen, das lange einem Kampf gegen Windmühlen glich, scheint nun von Erfolg gekrönt zu sein: Das Leid der Frauen hat in der Bundespolitik Gehör gefunden.
Jens Spahn will Gesetz ändern
"Frauen, die bei einer Immunprophylaxe Ende der 70er in der ehemaligen DDR mit Hepatitis C infiziert wurden, sollen auch dann weiter Entschädigungsleistungen erhalten, wenn sie inzwischen geheilt wurden", teilt Sebastian Gülde aus dem Bundesgesundheitsministerium mit. "Das ist Ziel eines Änderungsantrags zum AntiDHG, den Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in den Bundestag einbringen will."
Die Änderung des Gesetzes soll rückwirkend zum 1. Januar 2018 erfolgen. In dem Antrag heißt es wörtlich: "Bei Berechtigten (…) führt eine Besserung des schädigungsbedingten Gesundheitszustandes nicht zu einer Herabsetzung des Grades der Schädigungsfolgen, der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Regelung bestand." Was juristisch verklausuliert formuliert ist, heißt nichts anderes: Das Streichen der monatlichen Rente würde damit wieder aufgehoben. Allerdings muss der Spahn'sche Änderungsantrag im Oktober erst noch ins Parlament eingebracht und dort beschlossen werden. Aber die Chancen dafür stehen gut.
Geweint vor Freude
Am 28. August hat Gudrun Englert von den Plänen des Bundesgesundheitsministers Spahn erfahren. "Es war wie ein Donnerschlag", erzählt sie. Sie habe gezittert und vor Freude geweint, eine riesige Last sei von ihr gefallen. "Jeder Topf kriegt doch seinen Deckel. Endlich." Ebenfalls betroffenen Frauen rät sie, sich jetzt mit dem Bundesverband HCV-geschädigter Frauen in Chemnitz in Verbindung zu setzen und sich über das weitere Vorgehen beraten zu lassen. Bis das Gesetz wirksam sei, werde zwar noch etwas Zeit vergehen. "Die Frauen sollen sich aber - wie ich - schon jetzt freuen dürfen. Wenn nur der Spuk endlich vorübergeht!"