
Es ist gerade das Interessante und Reizvolle an der Heimatforschung, dass es immer wieder Überraschungen gibt. Einen regelrechten Festtag erlebten dieser Tage die beiden ehrenamtlichen Museumsleiter Bertram Schulz und Klaus Vogt, als sie von Karlheinz Thomas und dessen Schwager Klaus Barth zu einer Besichtigung auf dem Gelände der ehemaligen Tankstelle Thomas an der Schallfelder Straße eingeladen wurden. Unter dem Tankstellengelände erstreckt sich überraschenderweise ein riesiges unterirdisches Kellersystem, das stark an das Eiskeller-Labyrinth am Förstersbergle erinnert.
Dabei hatten die beiden Heimatforscher geglaubt, mittlerweile fast alle historischen Relikte in der Gerolzhöfer Unterwelt gesehen zu haben. Oft genug waren sie schon in alten Gewölbekellern und stillgelegten Abwasserschächten herumgekrochen, hatten Fotos gemacht, alte Brunnen ausgelotet und archäologische Spuren gesichert. Doch als Karlheinz Thomas mit ihnen auf einer Treppe hinab in die Tiefe schritt und unten die Türe aufschloss, blieb den beiden dann doch erst mal die Spucke weg.
Von einem kleinen Platz gleich hinter der Eingangstüre gehen vier gewölbte Gänge ab, in denen sich die steinernen Fasslager bestens erhalten haben. Einer der langen Gänge endet in einem hohen, fast quadratischen Raum: der ehemalige Eisbunker. An der Decke sieht man noch die Luke, durch die früher das Eis durchgeschlagen worden war. Später, so erzählt Karlheinz Thomas, stand in diesem Raum dann der große Tank für die Tankstelle.
Grundriss passt nicht
Dass es in diesem Bereich einen Bierkeller gibt, ist schon länger bekannt. Der verstorbene Hans Koppelt hatte für sein Büchlein „Unser Bier“ aus der Reihe „de geroldeshova“ bereits einen „Stephanskeller“ vermessen und davon einen Grundriss angefertigt. Der Keller hat seinen Eingang im Wohnhaus von Familie Mehrbrey an der Sudetenstraße, oberhalb von der Tankstelle Thomas gelegen. Er erstreckt sich in West-Ost-Richtung bis unter das Anwesen Ortner, ein Seitenarm geht in Richtung Norden.
Schon nach wenigen Minuten im gut ausgeleuchteten Kellersystem unter der Tankstelle wird den beiden Museumsleitern aber klar: Dieser Keller hier passt zu keinem der von Koppelt veröffentlichten Grundrisse und er hat nichts mit dem angeblichen „Stephanskeller“ bei Mehrbrey zu tun. Der Keller der Familie Thomas unter dem Tankstellengelände – dort, wo früher nachweislich der beliebte Stephan?sche Biergarten war – ist der tatsächliche, der richtige Stephanskeller. Die Geschichte der Gerolzhöfer Bierkeller muss also teilweise neu geschrieben werden.
Es stellte sich dann die Frage, um was für einen Bierkeller es sich unter den Anwesen Mehrbrey/Ortner handeln könnte. Und warum hat sich Hans Koppelt geirrt? Es bestand Recherche-Bedarf. Museumsleiter Klaus Vogt hat sich daran gemacht, Licht ins Dunkel zu bringen.
Ein erster wichtiger Hinweis ist auf dem ältesten Katasterplan der Stadt Gerolzhofen aus dem Jahr 1833 zu entdecken. Südlich der Stadt in Richtung Schallfeld sind die Gebäude der alten Ziegelhütte (heute Röder und Elektro-Zink) zu erkennen. Gegenüber auf der anderen Straßenseite liegen die Gebäude der Wasenmeisterei (Abdeckerei), die sich von der heutigen Steigerwaldstraße den Hang hinauf zog. Seitlich der Schallfelder Straße sind Grünflächen eingezeichnet, die die Nummer 61 tragen. 61 ist die alte Hausnummer des Gerolzhöfer Rathauses. Diese Grünflächen waren also städtisch. In eine dieser Flächen, etwa auf Höhe des heutigen Anwesens Mehrbrey an der Sudetenstraße, ist ein Grundstück mit einem kleinen Gebäude – offenbar ein Kellerhaus – eingezeichnet, das die Hausnummer 296 trägt.
Die 296 ist die alte Hausnummer des Anwesen an der Ecke Schallfelder Straße/Bleichstraße (heute Zahnarzt Dr. Seidenstücker). Schon ab dem Jahr 1787 ist hier ein Jörg Dauch (auch Daug oder Taug) erwähnt. Der Büttnermeister betrieb zu dieser Zeit schon eine „geringe Wirtschaft“. Sein Sohn, der Büttner- und Bierbrauermeister Johann Dauch, erhielt am 22. November 1819 von der Stadt die Brau-Konzession.
Er unterhielt auf seinem Grundstück keine eigene Brauerei, sondern braut sein Bier im kommunalen Brauhaus hinten im Bräugässle. Das auf dem Katasterplan von 1833 eingezeichnete Kellerhaus gehörte also der Brauerei Dauch.
In Felsen gehauener Keller
Es gibt im Stadtarchiv einen Akt aus dem Jahr 1824, der belegt, wann das Kellerhaus gebaut wurde. Johann Dauch kauft per Vertrag von der Stadt ein Stück „vom gemeinen Wasen zur Erbauung eines Häuschens auf seinem Felsenkeller“ ab. Mit dem „gemeinen Wasen“ ist die städtische Grünfläche mit der Nummer 61 neben dem Weg nach Schallfeld gemeint. Sein Gebräu lagerte Bierbrauer Dauch fortan in einem Winterbierkeller unter seiner Scheune in der Bleichstraße – und im Sommer nutzte er dafür seinen Eiskeller „außerhalb der Stadt, in Felsen gehauen“.
Wie ging es weiter mit der Brauerei Dauch? Johanns Sohn Michael Dauch übernimmt rund 25 Jahre später den Betrieb und erhält anno 1857 von der Stadt seine Brau-Konzession. Doch Michael stirbt nach wenigen Jahren. Seine 36-jährige Witwe Margarethe heiratet daraufhin 1863 den zwölf Jahre jüngeren Büttner- und Braugesellen Johann Georg Hofmann. Hofmann, geboren am 1. Januar 1839 in Aidhausen, arbeitete mutmaßlich als Geselle in der Brauerei Dauch. Doch auch diese Ehe ist von kurzer Dauer. Margarethe stirbt bereits am 25. Juli 1864. Brauereibesitzer Johann Georg Hofmann heiratet noch im gleichen Jahr die Barbara Ullerich, die Witwe des Gerolzhöfer Bierwirts Kaspar Ullerich.
Nach mehreren Verkäufen kommt die Brauerei schließlich im Jahr 1876 an Adam Greß, der aus der Fuhrmanns-Familie Greß in der Bahnhofstraße stammt. Adam führt die Brauerei mit Geschick zu ungeahnter Blüte, so dass er schließlich im Jahr 1892 die Brauerei Georg Hellmerich an der Ecke Schallfelder Straße/Schuhstraße kaufen kann. Das Anwesen wird abgerissen und im Folgejahr 1893 entsteht ein prächtiger Gaststätten-Neubau, der heute noch steht. Adams Sohn Ludwig Greß fällt im Ersten Weltkrieg. Die Witwe Theresia Greß heiratet daraufhin den Braumeister Ludwig Gradl. Fortan heißt die Gaststätte Gradl-Greß.
Der ehemalige Stammsitz mit der Nummer 296 (Dr. Seidenstücker) wird verkauft. Auch der Bierkeller an der Schallfelder Straße wird nicht mehr benötigt. Durch den Erwerb der Brauerei Georg Hellmerich ist Greß nämlich auch in den Besitz eines großen, viel günstiger gelegenen Bierkellers unter dem Gelände der heutigen Verwaltungsgemeinschaft) direkt neben dem Kommunalbrauhaus gekommen.
Der von Hans Koppelt in seinem Bier-Buch veröffentlichte Keller beim Haus Mehrbrey ist also nicht der Stephanskeller, sondern der Keller der Brauerei Dauch/Hofmann/Gradl-Greß.
Werfen wir nun einen Blick auf die Geschichte des tatsächlichen Stephanskellers. Die weit verzweigte Brauerfamilie Stephan war im Fachwerkanwesen an der westlichen Marktplatzseite (heute Distel-Stube) ansässig. Schon im Jahr 1655 gab es hier die Gastwirtschaft „Zum Einhorn“. 1832 kauft ein Johann Georg Hofmann, Büttner- und Bierbrauergeselle aus Mainstockheim, die Brauerei. Wichtig ist, dass der Johann Georg Hofmann aus Mainstockheim und der bereits erwähnte Johann Georg Hofmann aus Aidhausen, der in die Brauerei Dauch einheiratete, zwei verschiedene Personen sind!
Hofmann kann das „Einhorn“ nicht lange halten und verkauft spätestens 1835 an den Gerolzhöfer Bierbrauer Franz Valentin Wüst. Nach weiteren Eigentümerwechseln erwirbt schließlich Jakob Stephan 1853 die Gastwirtschaft. 1856 erhält er von der Stadt die Wirtschafts-Konzession, im gleichen Jahr ist zum ersten Mal sein „Keller an der Straße gegen Schallfeld“ schriftlich erwähnt. Wann und von welchem der oft wechselnden Eigentümer der Bierkeller der Brauerei „Einhorn“ gebaut wurde, muss mangels Archivalien ungeklärt bleiben. Vielleicht war es tatsächlich erst der Jakob Stephan. 1889 baut er auf jeden Fall eine neue Halle und einen neuen „Keller auf dem Bierkeller“, vermutlich den modernen Eisbunker.
Doch warum wurde der Bierkeller unter Mehrbrey fälschlicherweise immer als Stephanskeller bezeichnet? Der Grund dürfte die Verwechslung der beiden Herren Hofmann gewesen sein. Im Stadtarchiv gibt es einen Lageplan, auf dem beim Anwesen Mehrbrey ein langer Keller eingezeichnet ist. Dieser Keller ist mit „Eigentum des G. Hofmann“ bezeichnet. Bislang war nur bekannt gewesen, dass es einen Johann Georg Hofmann als Vorgänger auf der späteren Brauerei Stephan gab.
Und so schloss man fälschlicherweise daraus, dass der Keller des Hofmann später in Stephanskeller umbenannt wurde. Klaus Vogt fand nun heraus, dass es auch auf der Brauerei Dauch einen Johann Georg Hofmann gab. Und genau dieser Hofmann war es, dessen Keller auf dem Lageplan eingezeichnet ist.
Als die beiden Museumsleiter den Stephanskeller wieder verlassen haben, sagt Karlheinz Thomas: „Übrigens, da hinten haben wir noch einen Kartoffelkeller. Da waren wir aber seit Jahrzehnten nicht mehr drin.“ Er zeigt Richtung Bungalow. Dort liegt im Fußweg ein Gitterrost. Darunter geht es an Tritteisen in die Tiefe. Die Hobbyforscher sehen im Schein der Handlampen einen in Fels gehauenen Gang, der an seinen Seiten dick mit bunt schillernden Tropfsteinen bedeckt ist und in Richtung Anwesen Mehrbrey führt. Nach einigen Metern, ungefähr an der Grundstücksgrenze zwischen Thomas und Mehrbrey, versperrt eine hochkant gestellte Eternitplatte den weiteren Weg. Kein Zweifel, dies ist ein Seitenarm des alten Bierkellers der Brauerei Dauch.
Lange werden die beiden Kellersysteme aber nicht mehr existieren. Tankstelle und Bungalow werden demnächst abgerissen und machen Platz für zwei große Mehrfamilienhäuser.
Das ist dann das Ende für die Bierkeller.