
Elfmeterschießen, so sagen Fußball-Psychologen wie Roy Hodgson, ist eine „komplett andere Sportart.“ Deswegen ist erklärlich, warum ausgerechnet das Mutterland der Ursprungssportart, bei dem elf Athleten versuchen, einen Ball ohne Zuhilfenahme der Arme oder Hände in das Tor der anderen Mannschaft zu bugsieren, in jenem neuen Sport nicht zurecht kommt. Hodgson hat es geschafft, den englischen Rekord, bei Fußball-Turnieren nach dem Elfmeterschießen die Heimreise anzutreten, auf sechs Ereignisse hochzuschrauben.
Dabei hat jene Sportart, bei der sich Schütze und Torwart Auge in Auge gegenüberstehen wie einst Wyatt Earp und Doc Holliday., eine ganz besondere Ästhetik. Weitaus mehr als bloß eine Kunstlederkugel aus Elfmetern zwischen drei Torstangen mit dem Maßen 2,44 und 7,32 Metern hindurchzukicken. Mut und Ängstlichkeit, Ausgebufftheit und Brachialgewalt, Präzision und Schlampigkeit. All das lässt sich in den wenigen Sekunden diagnostizieren, die vergehen zwischen dem Anlaufen des Schützen und dem Wölben des Tornetzes oder dem Abprallen von den Handschuhen des Torwächters.
Glanz hat am vergangenen Sonntag ein Italiener dieser Sportart verliehen. Andrea Pirlo schnipste den Ball wie ein Papierkügelchen in die Mitte des Tores, nachdem sich Englands Joe Hart bereits in eine Ecke geschmissen hatte. Eine Mischung aus unfassbarem Selbstbewusstsein und aufreizender Lässigkeit.
Dabei ist Pirlo ein Plagiator: Der erste Schnipserkönig heißt Antonín Panenka. Erstmals hat eine Fußballnation im TV solch eine unverfrorene Art gesehen, einen Elfmeter zu verwandeln. Im Finale der EM 1976, als Uli Hoeneß zuvor die Kugel in den Belgrader Nachhimmel gedroschen hatte. Der Tscheche wagte es gar, den entscheidenden Elfer a la Schwejk zu verwandeln. Der Gelackmeierte böhmischer Schlitzohrigkeit hieß damals Sepp Maier. Pirlos Wiederentdeckung der Schnibbelkunst scheint einen Trend zu setzen. Denn auch der Spanier Sergio Ramos hat am Mittwoch gegen Portugal das Spielgerät mit seinem rechten Fuß so zart gestreichelt, dass es in einer filigranen Fallkurve ins Netz segelte. So faszinierend kann sie sein, diese Sportart, die einem aber gleichzeitig auch das Nervenkostüm und den Blutdruck zu ruinieren vermag.
Wer hat diese unvergleichliche Sportart erfunden? Richtig! Ein Deutscher. Und zwar 1970. Ein Ex-Schiedsrichter names Karl Wald hat damit den ungerechten Münzwurf abgeschafft, der nach Unentschieden und Wiederholungsspielen den Sieger bestimmt hat. Vielleicht sind wir Deutschen deswegen darin so gut. Bei Welt- und Europameisterschaften hat das Nationalteam nur das erste Elfmeterschießen versemmelt (jenes mit Hoeneß und Panenka) und danach alle fünf für sich entschieden. Aber bei der Formulierung dieser Zeilen kannte ich den Ausgang von gestern Abend noch nicht . . .
Wir tauschen: Ashley Young und Ashley Cole sowie aus früheren Kollektionen Steven Gerrard, Frank Lampard, Paul Ince und Chris Waddle, weil diese Engländer die neue Sportart einfach nicht beherrschen.