Ende November in Berlin. Christine Mielitz erzählt erstmals freiheraus über die Erfahrungen ihrer Meininger Intendantenjahre von 1998 bis 2002. Im Frühjahr 2001 standen Meiningen und sein Theater durch Mielitz' spektakuläre Inszenierung von Wagners „Ring des Nibelungen“ ein paar verlängerte Augenblicke im Fokus einer internationalen Kulturöffentlichkeit. Nach ihrer Zeit in Südthüringen war die Opernregisseurin bis 2010 Intendantin der Oper Dortmund. Seither arbeitet die heute 66-Jährige freischaffend. Zu Beginn der Spielzeit 2016/17 wird sie wieder in Meiningen zu Gast sein, mit ihrer Inszenierung von Glucks Oper „Iphigenie auf Tauris“, einer Koproduktion mit den Internationalen Gluck-Opernfestspielen in Nürnberg.
Christine Mielitz: Aber ganz bestimmt.
Mielitz: Ich hätte zwar eine Liste, bin mir aber nicht sicher, ob ich sie noch abarbeiten könnte, wenn das Feuer unterm Kessel brennt.
Mielitz: Erstaunlicherweise fällt mir sehr Inselhaftes ein. Die größte Insel war natürlich die Arbeit im Theater, wo man nahezu instinktiv das macht, was man tun muss, wenn man einigermaßen zurande kommen will in fremder Umgebung: „Wer sind die da? Welche Traditionen pflegen sie? Was kann man noch finden? Welche Felder sind so beackert, dass man sie auf keinem Fall besser pflügen kann als, zum Beispiel, Ulrich Burkhardt?“ – Dann ist ein ganz großes Erinnerungsfeld für mich die Landschaft. Ich hab so wundervoll gewohnt in einem alten Haus mit einer Glaskuppel überm Dach und konnte den ersten Hurrikan ahnen, bevor er überhaupt in Meiningen war. Meine Glaspyramide hat es damals ein bissel aus der Verankerung gehoben.
Mielitz: Nein, gar nicht. Ich habe überhaupt nicht an den „Ring des Nibelungen“ gedacht, als ich nach Meiningen kam. Dass Sie als neuer Intendant gerufen werden und ein Theater sich eigentlich noch immer in Trauer und Erinnerung an einen hervorragenden Intendanten befindet – das ist selten.
Die Art, im Haus zu leben war eine ganz eigene. Sie war vielleicht nicht die meine, aber es war eine respektable ganz eigene Art – eine große Herausforderung, da nicht einfach alles umkrempeln zu wollen. Damit kommen wir zur dritten Insel: Der Halt, von dem alle sagten, er sei immer dagewesen, den gab es so nicht. Es war sehr interessant, dass es etwa bis zur Hälfte der Probenarbeit am „Ring“ hieß: „Die Wahnsinnige von Meiningen“. Das stimmte ja auch: Wir waren wie Wahnsinnige. Ich erinnere mich an die Werkstätten und an Leute, deren Namen nie in irgendeiner Zeitung standen, und die sich nie vordrängten, die aber alle in Nachtschichten mitgemacht haben, um das Projekt zu verwirklichen. Das hab ich nie wieder woanders gefunden.
Mielitz: Ich glaube, die Schmerzgrenze der Menschen im ehemaligen Osten – das, was sie ertragen konnten, wenn sie begannen an etwas zu glauben –, diese Schmerzgrenze war sehr, sehr hoch. Während die Schmerzgrenze für Dinge, an die sie nicht mehr glaubten, sehr gering war.
Mielitz: Nein, ein warmer Wind konnte da nicht mehr wehen. Wenn damals jemand meinen Spielplanideen mit „Das ist ja unzumutbar“ kommentierte, weil darin zu wenig leichte Muse vorkam, habe ich gekontert: „Sie waren in Afghanistan? Sie waren im Irak?“ Man mag mir das nachsehen, aber davon bin ich heute noch überzeugt, dass ganz wenige Dinge in Deutschland wirklich unerträglich und unzumutbar sind.
Mielitz: Eine meiner größten, überhaupt die Helferin, war Frau Schwabe, die Verwaltungsdirektorin. Die hatte die richtige Logistik im Gespür: „Was müssen wir tun?“ Sie hatte auch die Idee mit dem zweiten Orchester für den „Ring“. Deshalb hat sie sich mit Petrenko so gut verstanden. Aber ich erinnere mich auch daran, dass die Schwabe und ich anfangs aneinandergeraten sind. Also, ich bin in Generalproben gegangen, in der die alten Abonnenten saßen – die man ja wirklich lieben und schätzen muss.
Aber einige rammelten durch die Türen, wann sie wollten. Die Generalprobe begann 20 Minuten zu spät. Da fuhr für mich die Feuerwehr aus! Ich hab noch versucht, freundlich zu sein: „Warum das?“ - „Nu, naja, wir sinn nich fertig geworden.“ Da wehte natürlich ein eisiger Wind.
Mielitz: Für alle. Es herrschte so eine familiäre Atmosphäre: „Wenn ich im Zuschauerraum sitzen will, dann mach ich mir alleene die Türe uff, bevor Einlass is. Da setz ich mich hin und packe meine Butterschnitte aus.“ Verstehen Sie: Ich erstarrte. Und das, bevor ich den Leuten begreiflich machen konnte, dass Theaterfamilie möglicherweise nicht unbedingt das Familiäre der Guten Stube zu Hause bedeutet.
Mielitz: Das war nicht ich, sondern mein Wiener Agent, Michael Lewin, ein ganz großer Entdecker von Dirigenten. Der hat mich damals gefragt, als die Dufour wegging, ob ich nicht das Wagnis unternehmen wolle. Da sei ein 28-Jähriger. Und ich, stirnrunzelnd: „Achtundzwanzig?“
Mielitz: Das dachte das Orchester zuerst auch. Aber nach der zweiten Probe war dann Ruhe, selbst wenn die Frage im Raum stand: „Brauchen wir jetzt nicht, nach der behutsamen und sensiblen Führung durch Frau Dufour – und die nicht jedem im Orchester gut tat –, brauchen wir jetzt nicht eine erfahrene, feste Hand?“ Das Erstaunliche war, dass die Dirigentin sich im entscheidenden Moment zum „Ring“ absolut konservativ verhielt.
Mielitz: Sie hat das für Wahnsinn gehalten. Sie hat das zur Allgemeinmeinung machen wollen, und das Orchester ist ihr auch zum Teil gefolgt. Sie können sich vorstellen, was das bedeutet, einen so jungen Dirigenten wie Petrenko dann nicht merken zu lassen, unter welchem Druck er eigentlich durch die Vorgeschichte stand.
Mielitz: Nein – und das ist die größte aller Meininger Erfahrungen: Ich habe in meinem Leben – außer vielleicht als Dreijährige, wo man Sprechen, Singen und Laufen lernt – nie wieder so viel auf einem Haufen gelernt wie in Meiningen. Es ist ein Unterschied, ob Sie die Schönheit einer Uhr bewundern oder ob Sie das Uhrwerk selber begreifen müssen. Und zwar jedes Zahnrad einzeln. Die Schwabe hat mir das Meininger Räderwerk begreiflich gemacht. Eine Weile hat sie immer gesagt: „Mielitz, Sie machen Intendanz, Regie und Opernleitung. Ist das nicht zuviel?“ Hab ich geantwortet: „Ne, ne, da weeß ich genau, was in meinem Kästchen ist.“ Aber ich hatte natürlich dieses fabelhafte Team um mich. Da waren Mitarbeiter dabei, die arbeiteten für dreie und für viere. Eine gewisse Härte gegen sich selbst ist aber keine Rechtfertigung dafür, zu sagen: „Ich hab mich selber nicht geschont, also muss ich andere auch nicht schonen.“ Trotzdem sind bestimmte Leistungen nur mit Grenzüberschreitungen zu schaffen, mit einer Schmerzschwelle, die etwas höher liegt.
Mielitz: Das ist immer so. Die Kraft besteht darin, im Vorhinein keine Garantie zu haben. Im Nachhinein zu jubeln ist geschenkt.
Mielitz: Es gab Widerstand, aber nie einen, der mir unüberwindlich schien. Es gab unglaubliche Krisen, die ich nicht merken lassen durfte. Eine Gefährtin von Alfred Hrdlicka hatte sich kurz zuvor das Leben genommen und wollte ihn mit in den Tod nehmen. Er wurde gerettet, aber hat sich davon nie mehr richtig erholen können. Es bedurfte großer Kraftanstrengung, mit ihm fertig zu werden.
Mielitz: Wichtig ist, dass man in solchen Momenten sagt: „Es geht nicht um Wiederholung der Geschichte, sondern darum, etwas in ganz bescheidenem Maß Noch-nie-Dagewesenes zu machen.“ Dafür hatten die Meininger die Potenz.
Mielitz: Einfach Arbeit. Sie überzeugen nicht mit Worten. Sie müssen Entwürfe liefern. Sie müssen dem Darsteller sagen, was er spielen soll. Wenn's ihn fasziniert, legt er los. Und Sie müssen Ihrem musikalischen Chef absolut vertrauen können, dass die Leute erfüllt, ausgepowert und glücklich aus den musikalischen Proben kommen. Das ist Überzeugung, nicht reden.
Mielitz: Im Nachhinein hab ich manchmal gedacht: „Hast du immer und zu allen Zeiten für jeden Einzelnen die Wertschätzung ausgedrückt, die nötig gewesen wäre?“ Nach den Proben ruft man alle zusammen und übt Kritik: „Leute, was gut war, sagen wir jetzt nicht. Nur das, was wir noch verbessern müssen.“ Da dachte ich manchmal, dass es Leute gibt, die schuften und sagen: „Ist doch klar.“ Und es gibt andere, die Lob sehr vermissen, weil sie es als Treibstoff brauchen. Das ist auf der Strecke geblieben. – Aber ich kann aus der Erfahrung aller Theater, die ich erlebt habe, wirklich sagen: Mir fällt neben Meiningen fast keine andere Stadt ein, die so einen Akt hätte vollbringen können.
Mielitz: Überhaupt nicht.
Mielitz: Ich hab mir gar nichts vorgestellt. Ich bin eigentlich ohne Plan „Was mach ich hinterher?“ nach Meiningen. Das einzige, was mich über mich selbst staunen ließ: Der Widerstand gegen meine Arbeit hat mich weniger fassungslos gemacht als die Zustimmung, dieses Meer von absoluter Zustimmung. Nach der Premiere des „Rings“ war die allgemeine Zustimmung so groß, dass ich einen Moment dachte: „Und was'n jetzt?“
Mielitz: Ich bin eine buh- und bravogeschüttelte Regisseurin und habe selten normalen Applaus gekriegt. Womit ich nicht gerechnet hatte, war das Bravo-Gewitter, das nach der „Walküre“ losging. Die Sänger waren ja auch atemberaubend. In diesem kleinen Raum diese Riesenstimmen.
Mielitz: Da hab ich gesagt: „Wenn ich hier anfange, mach ich gleich was, wo die sehen, wo der Hammer hängt. Mindestens in jeder zweiten Spielzeit eine klassische Moderne. Das seid ihr eurem Herzog schuldig, der es beim Schauspiel auch so gemacht hat.“ Das war eine große Herausforderung. Sie müssen sich mal vorstellen: In Mellrichstadt hat ein Schuldirektor die Busse abbestellt wegen der Sexszene in der „Lady“. Ich habe mit ihm telefoniert und er hat gesagt: „Wenn die Schüler privat hinfahren, können sie das. Nicht als Schulfahrt.“ – „Aber Sie organisieren doch sonst auch Theaterfahrten?“ - „Nein, in diesem Fall nicht.“ – Hab ich geantwortet: „Da befinden Sie sich in guter Kumpanei mit Herrn Stalin, der hat das auch so gemacht, als er das Stück verbot.“ – Da können Sie sich vorstellen, wie viele Freunde ich mir gleich am Anfang gemacht habe.
Mielitz: Als ob plötzlich nie etwas gewesen wäre an Widerstand, als ob nie etwas gewesen wäre an Bigotterie. Nach dem Erfolg hätten wir über Jahre Musikfestivals in der Stadt aufziehen und viele junge Leute in die Stadt locken können. Da ärgere ich mich manchmal, dass ich meinem Wunsch nach Veränderung um jeden Preis nachgegeben habe.
Mielitz: Ich hatte in Meiningen gelernt, dass Wunder und Unmögliches möglich sind. Und habe das in Dortmund unbarmherzig verlangt. Ab und zu dachte ich schon: „Verdamm mich, da waren die Meininger aber opferbereiter!“ In Dortmund hatte ich, zu meinem Schrecken, den Kulturdezernenten Fenster an Fenster. In Meiningen war's besser. Da hatten wir zwei Stunden Zeit, bis der Dezernent aus Erfurt kam oder ich kommen musste.
Mielitz: Das ist jetzt wirklich eine Unterstellung von mir. Bei aller Anerkennung ihrer Unterstützung: Ob sie in Erfurt nicht eigentlich genug hatten von dieser anstrengenden Frau? So etwa wie König Karl über die Jungfrau von Orléans nach ihrer letzten Schlacht stöhnte: „Kann sie nicht einfach nach Hause gehen?“ Im Dezember vor dem „Ring“ standen wir vor der Entscheidung: Bieten wir ihn in der nächsten Spielzeit noch einmal an? Die Schwabe und ich waren immer der Meinung: „Wir werden das einspielen!“ Doch die in Erfurt waren sich unsicher. Und dann ist es sensationell gelaufen. Plötzlich kamen die Politiker mit „Das müsst ihr selbstverständlich noch mal machen!“
Mielitz: „Das habt ihr verpasst“, musste ich ihnen sagen. „Entschuldigt mal, stampft ihr jetzt das Spielzeitheft ein, stampft ihr die gesamte Planung ein? Alle verkauften Abonnements fürs Schauspiel? Ich nicht. Ich trete jetzt nicht meine Leute.“
Mielitz: Es wäre jetzt ganz gemein, zu sagen: „Die allein haben uns behindert.“ Wir hätten es ohne deren Garantie für Hilfe machen können. Aber wenn es total schief gelaufen wäre, hätte ich das Meininger Theater ruiniert. Und da habe ich gesagt: „Nee, den Ruin des Theaters nehme ich nicht in Kauf.“
Mielitz: Ja, da war eine Scheu. Und dann spürte ich – aber das unterstelle ich –, dass verantwortliche Finanzpolitiker wohl dachten: „Nun könnte sie doch mal zum Alltag zurückkehren.“
Mielitz: Die damalige Kultusministerin Schipanski hat immer bedauernd gesagt: „Mielitz, wenn Sie jetzt gehen ...“ Und ich habe geantwortet: „Der Nächste kann auch.“