Dass der kleine Luis am 11. Juni letzten Jahres mit seinem Kinderfahrrad stürzte und sich den Lenker schmerzhaft in den Bauch rammte, war ein Glücksfall. Gut, dass sich neben dem Bauchnabel des damals Vierjährigen dieser dicke, blaue Fleck bildete, der auch nach Wochen einfach nicht weggehen wollte. Hätte er sich nicht wehgetan, wäre er jetzt vielleicht tot.
Denn nur deshalb muss Luis schließlich ins Krankenhaus. Zur sogenannten Hämatomausräumung, um den Bluterguss operativ abzusaugen. Nach dem ambulanten Eingriff klingelt bei der Familie das Telefon. Luis müsse noch mal kommen, zur „Wundkontrolle“. Die Eltern Theresia und Illja Zeidler wundern sich darüber, der Vater ist selbst Krankenpfleger im Leopoldina-Krankenhaus, der Termin in diesem Fall eigentlich nicht üblich. Im Leo nehmen die Ärzte die Eltern dann beiseite. Bei der OP sei mit dem Bluterguss noch etwas mitgekommen. Luis hat einen Tumor im Bauch. Hochgradig bösartig, mit schnell teilenden Zellen, die Überlebenschancen seien sehr gering.
Wie sagt man das den Geschwistern?
„Zuerst habe ich eine große Leere gefühlt“, sagt Illja Zeitler. Das Schlimmste war dann, es Luis beiden Schwestern zu sagen. Die elfjährige Ronja und die 14-jährige Marie haben im direkten Umfeld schon mehrere liebe Menschen sterben sehen, sie wissen was das Wort „Krebs“ bedeutet. „Die sind völlig zusammengebrochen“, erzählt der Vater. Trotzdem lautet die Devise von Anfang an: kämpfen. Was wäre schon die Alternative?
Sofort geht die Therapie los, es darf keine Zeit verloren werden. Schon am nächsten Tag wird in der Uni-Kinderklinik in Würzburg der Ablaufplan geschmiedet: Chemotherapie, Operation, Bestrahlung. Bald wird wenigstens klar, dass der Tumor nicht gestreut hat, er etwas weniger bösartig ist als gedacht – es gibt doch noch eine Chance. Sie müssen jetzt täglich vom Haus in Hambach nach Würzburg. Theresia Zeidler sperrt ihr Frisörgeschäft zu, Familie und Freunde helfen, wo es geht, Illja Zeidler nimmt die Krankheitstage, die Eltern gesetzlich für die Pflege ihrer Kinder zustehen.
Die sind aber schnell aufgebraucht, unbezahlten Urlaub kann sich die Familie nicht leisten. Wenn irgendwie möglich, fährt der Krankenpfleger ins Leo. Dann fällt Zeidler auf der Arbeit ein Papier in die Hände. „Überstunden für Illja – Zeit für Luis“ steht darauf. Eine ungeheure Kraftanstrengung stehe der ganzen Familie bevor, „um der Krankheit gegenüber zu treten und sie hoffentlich zu besiegen“. Es ist ein Aufruf, Überstunden zu spenden, damit er sich um seinen Sohn kümmern kann. Schließlich werden Zeidlers Zeitkonto 500 Überstunden gutgeschrieben. Bei einer 40-Stunden-Woche sind das 12,5 Wochen.
Aufruf von Unbekannt
Bis heute weiß der Pfleger nicht, wer den Aufruf gestartet hat. Auch nicht, welcher Kollege wie viele Stunden gegeben hat. „Aber ich finde das schon noch raus“, sagt er und lacht. Dass er die ganze, sehr persönliche Geschichte in der Zeitung erzählt, soll auch seine Dankbarkeit ausdrücken. Die übrigens auch der Krankenhausverwaltung gilt, die das alles so zugelassen hat. „Ich fand die Grundidee von Anfang an sehr gut“, sagt Leopoldina-Geschäftsführer Adrian Schmuker. Ein wenig Bedenken habe man gehabt, ob das rechtlich alles so funktioniert, etwa aufgrund unterschiedlicher Lohnsteuersätze und Sozialversicherungsbeiträge.
„Wir haben das prüfen lassen“, erklärt Schmuker – und so hat er sein Okay gegeben.
Eine Pflegekraft hat gar 100 Stunden gegeben – laut dem Geschäftsführer die größte Einzelspende. Sowohl zeitlich als auch finanziell (Pflegekräfte können Überstunden abfeiern oder sich ausbezahlen lassen) hätte man davon locker auch einfach mal in Urlaub fahren können. Von etwa 700 Leo-Pflegern haben insgesamt 103 mitgemacht – und zwar aus allen Abteilungen, nicht nur aus Zeidlers Station, der Notaufnahme. Mehr als 1000 Stunden kamen zusammen. Wenn Zeidler mehr als die bislang verbuchten 500 Stunden braucht, kann er auf noch mehr zurückgreifen.
Dazu sind seine Pflegekollegen extrem flexibel, springen kurzfristig ein, wenn Luis' Blutwerte schlecht sind und Zeidler doch kurzfristig eine Schicht absagen und in die Uniklinik muss. Als der Anruf von der Zeitung kommt, ob er die ganze Geschichte öffentlich machen möchte, willigt er sofort ein. Es ist auch ein Weg, Danke zu sagen.
Der Vater braucht seine ganze Kraft für die Familie. Er ist der, der organisatorisch den Laden am Laufen hält, der stark bleiben muss. Mama Theresia übernachtet während der Chemotherapien mit in der Klinik, konzentriert sich ganz auf den Sohn. „Ich bin so oft auf der Autobahn an die Raststätte gefahren und hab? Rotz und Wasser geheult, was alles noch auf uns wartet.“ Die Chemotherapie läuft auch nicht gut an. Es braucht vier von insgesamt zehn Chemo-Blöcken, bis die eine Komponente im Cocktail gefunden ist, die Luis nicht verträgt. Er reagiert allergisch, hat immer wieder Fieberschübe.
Mit den Nerven am Ende
Er verweigert zu Hause die Tabletten, deshalb muss er täglich in Würzburg an den Tropf. Aber weil sie ihm da immer wehtun, will er da auch nicht hin. Sie brauchen drei Leute, um mit ihm in die Uniklinik zu fahren – einer fährt, zwei halten den Kleinen fest. Bis zu fünf Pfleger braucht es, um Luis behandeln zu können. Ständig müssen ihn die Ärzte sedieren, etwa um genaue Messungen durchführen zu können. Mama Theresia hat Bisswunden, die Eltern sind mit den Nerven am Ende. Einmal versucht Luis, während der Fahrt aus dem Auto zu springen.
Doch dann fällt irgendwie der Groschen. Eines Morgens teilt der Dreikäsehoch den Eltern mit, dass er von nun an die Tabletten schlucken werde – und tut es tatsächlich. Für manche Untersuchungen, wo er stillhalten muss, braucht er jetzt keine „Schlafmilch“ mehr, er bleibt ganz ruhig liegen. „Er ist erwachsener geworden“, sagt Zeidler und muss selbst ein bisschen grinsen, weil Luis im Februar ja gerade mal fünf Jahre alt geworden ist.
Gefährliche Operation
Aber er hat schließlich auch schon verdammt viel erlebt: Nach den zehn Blöcken Chemo kommt eine gefährliche Operation, in der die Ärzte den Rest des Tumors entfernen. Papa Illja zeigt ein Foto – zwölf auf acht Zentimeter misst das Ungetüm. Sieben Stunden dauert die OP, die Eltern sprachlos auf dem Flur. „Es stand 50 zu 50, dass er auf dem Tisch bleibt.“ Danach folgen 23 Bestrahlungen, es geht nicht anders, auch wenn sie das sehr gehofft hatten. Der frisch operierte Kinderbauch ist total verbrannt.
Auf dem Handy des Vaters sind trotzdem Bilder aus diesen Tagen, auf denen Luis herzlich lacht. Einmal müssen die Ärzte die Markierungen, die sie für die Strahlentherapie auf Luis' Bauch gezeichnet haben, noch mal komplett neu machen – Luis hat das Filzstift-Fadenkreuz mit kleinen Sternen und Sonnen verziert. Wenn die alle auf seinen Bauch malen dürfen, dürfe er das ja wohl schon lange.
Ein Kraftpaket ist der kleine Junge – und zum Glück haben all die Strapazen offenbar etwas gebracht: „Wir sind von hoffnungslos auf 80 zu 20, dass er es schafft.“ Ganz persönlich ist sich der Vater sogar noch sicherer. „Er packt das auf jeden Fall.“ Auch wenn noch ein langer Weg bevorsteht – am 13. April ist der Termin für die Abschlussuntersuchung. Einen Tag später hat der Papa Geburtstag. Was er sich wünscht, ist ja klar.
Aber sollte es nicht selbstverständlich sein bei einer so schweren Krankheit eines Kindes die Familie nicht mit ihren Sorgen allein zulassen?? Was ist mit der Krankenkasse (die ist doch für die Gesundheit des Kleinen zuständig, und das geht doch in diesem Alter ohne Mama und Papa gar nicht) und was ist mit Sozialämtern??
Lassen wir wirklich Familien in solchen schweren Situationen allein?
Wir wünschen von Herzen alles Gute.
Tolle Geschichte, tolle Kollegen, toller Chef.