zurück
SCHWEINFURT
Über den barocken Raum: Musik und Film in der Kunsthalle
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 27.07.2015 17:14 Uhr

Selbst ein flüchtiger Blick in die Ausstellung in der Kunsthalle macht klar, welch bedeutende Schnittstelle die Künstler der Gruppe WIR zwischen 1959 und 1965 gestaltet haben – zwischen dem Informel, der konsequent nichtgegenständlichen Kunst der Nachkriegszeit, und der Pop Art, die ab Mitte der 1960er-Jahre Massenmedien und Massenkonsum als kunstwürdige Phänomene entdeckte.

Die WIR-Künstler setzten sich mit den alten Meistern auseinander – Rembrandt, Rubens, El Greco, Delacroix – und fanden eine eigene Farb- und Formensprache für althergebrachte Bildthemen wie „Höllensturz“ oder „Sankt Michael mit dem Flammenschwert“. Und sie interessierten sich für die Kunst des Barock – diese, wenn man so will, ebenso radikale wie stringente Gestaltung des (Kirchen-)Raums.

Die WIR-Mitglieder Reinhold Heller (1933–1993), Helmut Rieger (1931–2014) und Hans Matthäus Bachmayer (1940–2013) erkundeten deshalb 1961 und 1962 mit einer geliehenen 16-Millimeter-Kamera unter anderem die Klosterkirchen von Rott am Inn und Ottobeuren und die Basilika Vierzehnheiligen. Das Schwarz/Weiß-Material schnitten sie zu einem 27 Minuten langen Stummfilm, dem sie den Titel „Über den barocken Raum“ gaben.

Dazu wählten sie Klaviermusik von Alexander Skrjabin (1872–1915) als „adäquates Pendant zur visuellen Form“, wie Leopold Heller, Sohn von Reinhold Heller, im Katalog zitiert ist.

Uraufführung 1987

Es war Leopold Heller, damals Student an der Musikhochschule München, der die Skrjabin-Stücke für die Uraufführung des Films 1987 im Rahmen einer WIR-Retrospektive im Münchner Kunstverein einspielte. Damals stand kein Flügel zur Verfügung, deshalb kam die Musik vom Band. Seither ist der Film nicht mehr gezeigt worden.

Und so war es am Donnerstag eine Art zweiter Uraufführung, als die Schweinfurter Kunsthalle den Film mit echtem Pianisten zeigte: Dmitry Rodionov spielte die fünfte Klaviersonate, sieben Préludes und zwei Poemes auf dem Flügel, während die leicht wackligen Bilder über die Leinwand flackerten.

Die Kamera tastet sich in den Raum hinein, wandert an Figuren entlang, umkreist Details, verweilt, kehrt zurück. Und enthüllt dabei immer wieder diese verblüffende Einheit von Ordnung und vermeintlichem Chaos. Von Überschwang und Strenge. Ekstatisch verdrehte Körper, spektakulär fallende Gewänder, harter Marmor, der vorgibt weiche Haut, weicher Stoff zu sein. Weitere Gegensatzpaare drängen sich auf: schnell – langsam; rund – eckig; schwer – leicht.

Extreme Hell-Dunkel-Effekte

Immer wieder neu sieht der Zuschauer eine Hand, einen Spitzensaum oder einen Schuh. Immer wieder neu wird sein Blick in die Weite des Kirchenraums gelenkt, geschärft von den absolvierten Ausflügen. Für eine Sequenz ließen sich Heller, Rieger und Bachmayer nachts vom Küster in der Kirche Rott am Inn einsperren, um in der Dunkelheit zu filmen, berichtet Margit Heller, Witwe von Reinhold Heller und Leihgeberin der Ausstellung, die extra zur Filmvorführung angereist ist. Der Scheinwerfer sorgt im Film für extreme Hell-Dunkel-Effekte, die die barocke Plastik buchstäblich in ganz anderem Licht zeigen.

Die Musik von Alexander Skrjabin, genau auf die Länge des Films getimt, passt in ihrer Maßlosigkeit perfekt zu den Bildern. Anfang der 1960er-Jahre steht die Musik des Barock und der frühen Klassik noch im Ruf, gefällig gleichförmig zu sein, aber nicht viel mehr. Die Wiederentdeckung ihrer Vitalität wird erst etwa 20 Jahre später mit der historischen Aufführungspraxis einsetzen.

Skrjabin selbst steht an einer Schnittstelle – zwischen Spätromantik und Moderne. Auch beleuchtet Vorgefundenes radikal neu. Die Steigerungen auf kleinstem Raum, das Aufbrausende, die wuchtigen Dissonanzen, unvermittelt gefolgt von lyrischen Passagen, das alles kommentiert und interpretiert die Bilder verblüffend schlüssig. Was freilich auch ein Verdienst des virtuosen, leidenschaftlichen und sensiblen Spiels von Dmitry Rodionov ist.

Die Ausstellung Gruppe WIR ist bis 13. September in der Kunsthalle zu sehen.

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Schweinfurt
Mathias Wiedemann
El Greco
Kunsthäuser
Massenmedien
Rembrandt Harmensz van Rijn
Schnittstellen
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top