Irgendwann singt Tura für Elemedi ein kleines, fremdartiges Wiegenlied. Das ist so schön und so unendlich traurig, dass für einen kurzen Moment der Wahnsinn da draußen zum Stillstand kommt. Dass für einen kurzen Moment eine Ahnung von Menschlichkeit aufscheint. Da draußen, das ist das eingekesselte Sarajevo Anfang der Neunziger im Balkankrieg. Tura ist Moderatorin des Radiosenders 99. Sie versucht, inmitten von Granatenbeschuss, Hunger und Tod ein winziges Stückchen Normalität aufrechtzuerhalten. Sie sendet gegen die Hoffnungslosigkeit und gegen die tödliche Langeweile.
Elemedi ist Volontär – während Tura zwischen den Hits von Depeche Mode, Simply Red oder Madonna in einem wilden Monolog ihre ganze Verzweiflung, ihre Angst, ihren Hass und ihre Hoffnungen herausschreit, wird der völlig traumatisierte Elemedi seiner Panik nicht mehr Herr. Tura und Elemedi sind die handelnden Personen in Susanne Schneiders Theaterstück „Sarajevo Good Bye“, das auf den Tagebuchaufzeichnungen der jungen Redakteurin Tatjana Protrka fußt. Bernd Lemmerich hat es für das Theater an der Disharmonie inszeniert – am Donnerstag war Premiere im Spitalseebunker.
Der Ort ist kongenial gewählt: Das Publikum ist in dem kahlen, niedrigen Raum ebenso eingeschlossen wie die Protagonisten in ihrer Radiostation. So herrscht von Anfang an eine Art Beklemmung – es wird schwer werden, dem auszuweichen, was hier passieren wird.
Christina Hadulla spricht einen Prolog mit zeitlosen Wahrheiten von Baudelaire: „Dummheit, Irrtum, Sünde, Geiz hausen in unserem Geiste, plagen unseren Leib, und wir füttern unsere liebenswürdigen Gewissensbisse, wie die Bettler ihr Ungeziefer nähren.“ Da wird es schon ein bisschen ungemütlich im Bunker, und das ist gut. Auch so muss Theater sein.
Julian Wenzel spielt den Elemedi – ein Häuflein Elend, das jederzeit selbst zum Täter werden kann. Ivy Haase spielt die Tura. Mit Sarkasmus und Zynismus rückt sie ihrer Angst zu Leibe, vor allem aber ist es ihr einziges Mittel, der unfassbaren Entmenschlichung zu begegnen, die sie umgibt. Die desinteressierten Westeuropäer entlarvt sie als „Kulinariker des Schreckens“, die pseudohilfreichen Rituale des Radios parodiert sie. Das Wetter, zum Beispiel. Oder die „Kochtipps im Krieg“: „Brot backen ohne Mehl – warum nicht auch vögeln ohne Mann“, ruft sie in bitterem Hohn.
Ivy Haase ist die alles beherrschende Figur dieses Stücks – sie muss als Tura Unaussprechliches durchleben, von Unaussprechlichem berichten, sie muss Worte, Gesten, vor allem aber Ton und Rhythmus dafür finden. Und das gelingt ihr. Ihre großartige Darstellung der Tura ist von schrecklicher Schönheit – distanz- und kompromisslos und beunruhigend bis zur Bedrohlichkeit.
Bernd Lemmerich und sein Sohn Philipp haben im Sommer das ehemalige Jugoslawien bereist. Haben versucht, ein Gespür für den Zustand der dort nach dem Krieg entstandenen Staaten zu bekommen, vor allem aber für die Menschen und das, was an Zerstörungen und Schäden geblieben ist – äußerlich wie seelisch. Philipp hat Fotos und Videos gemacht, die in zwei breiten, ebenfalls niedrigen Räumen im ersten Stock des Bunkers zu sehen sind – Bilder von Gebäuden, Gräbern und Menschen in und um eine Stadt, die für so viel Geschichte, Kultur, aber auch Leiden und Gewalt steht.
Wie dieser Krieg hat auch das einstündige Theaterstück kein richtiges Ende. Irgendwann ist es vorbei, wir wissen nicht, was aus Tura und Elemedi wird. Wir wissen nur, dass wir ihnen damals, als die Belagerung von Sarajevo langsam aus den Nachrichten verschwand, weil andere, neuere Themen interessanter wurden, nicht helfen konnten oder wollten. Und wir wissen, dass in Syrien, in der Ukraine, in Gaza und an vielen anderen Orten viele andere Menschen leiden, denen wir nicht helfen können oder wollen.
Sarajevo Good Bye ist noch einmal zu sehen: Samstag, 15. November, 20 Uhr, Hochbunker am Spitalseeplatz, Schweinfurt. Karten: Tel. (0 97 21) 2 88 95. Beginn ist um 20 Uhr, Einlass um 19 Uhr.