Der Yeti soll hier schon gesehen worden sein. Vielleicht bei der Belucha, dem „weißen Berg“, der mit 4506 Metern der höchste Gipfel der autonomen Republik Altai ist. Hier an der Belucha wurde 1993 auf dem Ukok-Plateau die Eisprinzessin gefunden, die Mumie einer skythischen Prinzessin, die hier vor 2500 Jahren lebte. Sie wurde durch das Eis konserviert und ruht heute in einem Sarkophag im Nationalmuseum von Gorno Altaisk.
Die autonome Republik Altai liegt in Südsibirien und grenzt an Kasachstan, China und die Mongolei. Sie ist mit fast 93 000 Quadratkilometern ungefähr so groß wie Bayern und Thüringen zusammen, aber viel weniger dicht besiedelt (etwa 210 000 Menschen). Über die Hälfte der Bevölkerung sind Russen, 34 Prozent sind Altaier und vier Prozent Menschen deutscher Abstammung.
Eine von ihnen ist Katja Barabasch. Sie lebt mit ihrer Familie in Maima, einer Stadt ganz in der Nähe der Hauptstadt Gorno Altaisk. Die Wurzeln von Katja, die mit Mädchennamen Bernhard heißt, liegen in Deutschland. Einst folgten ihre Vorfahren dem Ruf von Zarin Katharina, die ihre deutschen Landsleute aufforderte, in Russland zu siedeln. Mehrere Generationen von Katjas Vorfahren ließen sich im Gebiet der heutigen Ukraine nieder und lebten dort als Bauern.
Anfang des 20. Jahrhunderts kam es zu einem weiteren Umzug nach Osten. Viele folgten der Aufforderung, nach Sibirien zu gehen, weil ihnen dort Grund und Boden versprochen wurde, Steuerfreiheit und ein freieres Leben. So zog auch Familie Bernhard in der Hoffnung auf ein besseres Leben zu Fuß und mit Pferdewagen, auf denen die wenigen Habseligkeiten transportiert wurden, nach Sibirien in die Kulundasteppe. In der Gegend rund um die Bezirkshauptstadt Slavgorod ließen sie sich in einem der von Deutschen gegründeten Dörfer nieder. Hier wurde Katja im Jahr 1947 als eines von sieben Kindern geboren.
Nach ihrer Heirat mit Sascha Barabasch zog Katja in die Autonome Republik Altai. Sascha arbeitete als Großhandelskaufmann für eine Ladenkette und war Chef von 500 Angestellten, Katja war Buchhalterin. Zwei Söhne bekam das Paar und in den zwei Jahrzehnten vor der Perestroika lebte die Familie zufrieden.
1991, kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, erfüllten sich Katja und Sascha den Traum von einem eigenen Haus. Aus roten und weißen Ziegeln gemauert liegt es umgeben von einem großen Grundstück in einer ruhigen Wohnsiedlung in der Nähe des Flusses in Maima. Das Haus ist umgeben von einem großen Nutzgarten, in dem Gurken, Zucchini, Weißkraut, Peperoni, Kartoffeln und Auberginen gedeihen, die Tomaten und Paprikaschoten werden im Gewächshaus gezogen. Im Nebengebäude ist eine Banja (ein russisches Badehaus) untergebracht, und auch ein Schweinchen lebt hier.
Die Kinder besuchten die örtliche Schule und Aljoscha, der ältere Sohn, ist heute Ökonom, während Alexander, als Jurist in der Landeshauptstadt Gorno Altaisk tätig ist. Beide Söhne sind verheiratet, und Katja und Sascha sind Großeltern zweier Enkelkinder.
Während Katjas Geschwister in den 90er Jahren alle nach Deutschland übersiedelten, blieb Familie Barabasch in Sibirien. Natürlich sind die Gründe für ihr Bleiben vielfältig. Katjas Ehemann hat seine Wurzeln hier und hätte seinerseits Familie und Heimat verlassen müssen.
Die Familie spricht ausschließlich Russisch und auch die 66-Jährige hat den größten Teil ihrer deutschen Muttersprache vergessen, da sie diese fast nie benutzt. Nur manchmal, im Gespräch mit mir, fallen ihr plötzlich wieder Wörter und kurze Sätze ein. Auch die Söhne waren ein weiterer Grund, in Sibirien zu bleiben. Beide sind erfolgreich in ihrem Beruf und auch für sie käme eine Übersiedlung nicht in Frage.
Letztes Jahr hat Familie Barabasch ihre Verwandten in Deutschland besucht. Drei von Katjas Geschwistern leben in Schweinfurt, und natürlich haben die beiden deshalb auch einige Zeit hier verbracht. Auf die Frage, was ihr in Schweinfurt am besten gefallen habe antwortet Katja: „Die grünen, sorgsam gepflegten Wehranlagen mit dem schönen Springbrunnen und das ECE-Einkaufscenter.“
„Aber das Beste von allem war, dass ich mir zwei Wochen lang meine Schuhe nicht putzen musste, weil die Straßen in Deutschland so sauber sind“, ergänzt die Schwiegertochter Ljuba, die auch schon in Schweinfurt zu Besuch war. Wer schon einmal durch eine Stadt in Russland gelaufen ist, der versteht, was sie damit sagen will. Bis heute sind längst nicht alle Straßen geteert und auch die Zufahrt zum Haus der Familie Barabasch ist eine Lehmpiste, auf der bei Regen die Pfützen stehen.
Nachgedacht hat das Ehepaar schon über mögliche Vorteile einer Übersiedlung nach Deutschland: „Wir sind nun Rentner und bekommen in Sibirien, obwohl wir gute Jobs hatten, nur eine kleine Rente“, erzählt mir Katja. „Aber eine Übersiedlung nach Deutschland kommt nicht in Frage“, versichert mir Katja, „hier lebt meine Familie und deshalb ist hier auch meine Heimat.“
Die Autorin: Manuela und Rudi Twardzik aus Dittelbrunn sind in ihrem umgebauten Lkw-Transporter unterwegs durch Kasachstan und Sibirien. In den geplanten sechs Monaten berichtet Manuela Twardzik sporadisch fürs Schweinfurter Tagblatt über ihre Erlebnisse.